Verschärfte Anforderungen für die Grundsatzbeschwerde?
Über die unter "News" ("Das ändert sich 2019 im Arbeits- und Sozialrecht...") erläuterten wichtigen Änderungen in der Gesetzgebung hinaus erscheint ein Hinweis auf eine sich möglicherweise abzeichnende folgenschwere Änderung der Rechtsprechung des BAG zu den Anforderungen an eine Nichtzulassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage angezeigt.
Eine Rechtsfrage i.S.d. §§ 72a Abs. 3 Nr. 1, 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG hat bekanntlich den Inhalt oder den Regelungsbereich oder die Wirksamkeit einer geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtsnorm zum Gegenstand. Sie hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie in der Revisionsinstanz klärungsfähig und klärungsbedürftig ist und diese Klärung entweder von allgemeiner Bedeutung für die Rechtsordnung ist oder wegen ihrer tatsächlichen Auswirkungen die Interessen der Allgemeinheit oder eines größeren Teils von ihr eng berührt. Sie ist entscheidungserheblich, wenn sich das LAG in der anzufechtenden Entscheidung mit ihr befasst und sie beantwortet hat. Schließlich muss bei anderer Beantwortung eine für die beschwerte Partei günstigere Entscheidung zumindest möglich gewesen sein (HWK/Treber, Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 72 ArbGG Rn. 10).
Die Rechtsfrage ist grundsätzlich dann klärungsbedürftig, wenn sie höchstrichterlich noch nicht entschieden und wenn ihre Beantwortung nicht offenkundig ist. Wenn also die Rechtsfrage von einem obersten Gerichtshof des Bundes bereits entschieden ist, ist sie nicht (mehr) klärungsbedürftig. Ausnahmsweise kann jedoch eine von einem obersten Gerichtshof des Bundes bereits entschiedene Rechtsfrage (wieder) klärungsbedürftig werden, wenn gegen diese Entscheidung in der Rechtsprechung und im Schrifttum gewichtige Gesichtspunkte vorgebracht werden. Trotz Fehlens einer höchstrichterlichen Entscheidung wird die Klärungsbedürftigkeit ausnahmsweise verneint, wenn die Rechtsfrage so einfach zu beantworten ist, dass keine divergierenden Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte zu erwarten sind oder dass die Beantwortung durch das Landesarbeitsgericht eindeutig und für jeden Kundigen ohne Zweifel erkennbar ist, was insbesondere der Fall ist, wenn die gesetzliche oder tarifliche Regelung völlig eindeutig ist (GMP/Müller-Glöge, ArbGG, 9. Aufl. 2017, § 72 Rn. 14; HWK/Treber, a.a.O., § 72 Rn. 12; BeckOK ArbR/Klose, § 72 ArbGG Rn. 7.4 jew. m.w.N).
Vor diesem Hintergrund verlangte die bisherige Rechtsprechung des BAG, dass eine auf § 72a Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG gestützte Grundsatzbeschwerde die Entscheidungserheblichkeit und die grundsätzliche Bedeutung der klärungsfähigen und im oben ausgeführten Sinn klärungsbedürftigen Rechtsfrage darlegt. Aus der Beschwerde musste somit ersichtlich sein, dass die Rechtsfrage höchstrichterlich noch nicht abschließend geklärt und ihre Beantwortung nicht offenkundig, also noch zweifelhaft ist (NK-ArbR/Düwell, 1. Aufl. 2016, § 72a ArbGG Rn. 54).
Über diese Anforderungen ist der 6. Senat des BAG deutlich hinausgegangen (Beschl. v. 20.11.2018 - 6 AZN 569/18, ArbRB Online). Danach genügt der bloße Hinweis auf eine noch ausstehende höchstrichterliche Entscheidung zu der entscheidungserheblichen Rechtsfrage nicht mehr aus. Vielmehr muss die Grundsatzbeschwerde zum Beleg der Klärungsbedürftigkeit auch darlegen, aus welchen Gründen, in welchem Umfang und von welcher Seite die Beantwortung der Frage (durch das Berufungsurteil) zweifelhaft und streitig sein soll.
Nochmals mehr "Vortrag" verlangt eine Entscheidung des 2. Senats (Beschl. v. 10.10.2018 - 2 AZN 453/18, n.v.) vom Beschwerdeführer. Denn danach soll eine Grundsatzbeschwerde nur dann den gesetzlichen Begründungsanforderungen genügen, wenn sie mit Bezug auf die konkrete Entscheidung des Berufungsgerichts zu der entscheidungserheblichen Rechtsfrage sogar darlegt, dass mit abweichenden Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte ernsthaft zu rechnen sei.
Obwohl mit einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht die Sachentscheidung des Berufungsgerichts, sondern allein die Nichtzulassung der Revision beim Bundesarbeitsgericht anfällt und obwohl das BAG grundsätzlich nur und erst aufgrund einer zugelassenen Revision prüft, ob das Urteil des Landesarbeitsgerichts einer revisionsrichterlichen Überprüfung standhält, soll es dem Beschwerdeführer obliegen, sich nicht nur mit der entscheidungserheblichen Rechtsfrage inhaltlich auseinanderzusetzen, sondern sogar eine prognostische Einschätzung dazu zu "wagen", dass mit abweichenden Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte ernsthaft zu rechnen sei.
Vergleichbare Anforderungen darf das Bundesarbeitsgericht jedoch nicht stellen, wenn sich eine entscheidungserhebliche und der einheitlichen Auslegung bedürfende Frage des Unionsrechts stellt. Denn dann ist bereits wegen einer sich voraussichtlich erst in einem künftigen Revisionsverfahren ergebenden Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gegeben (BVerfG, Beschl. v. 8.10.2015 -1 BvR 1320/14). Wenn aufgrund der Möglichkeit, die Nichtzulassungsbeschwerde auf die grundsätzliche Bedeutung einer Frage des Unionsrechts zu stützen, ein Landesarbeitsgericht, das die Revision nicht zugelassen hat, nicht (mehr) zum Kreis der vorlagepflichtigen Gerichte i.S.v. Art. 267 Abs. 3 AEUV zählt (BAG, Beschl. v. 8.12.2011 - 6 AZN 1371/11, ArbRB 2012, 104 [Hülbach]), dann hat dies Auswirkungen auf die Anforderungen an die Begründung einer Grundsatzbeschwerde wegen der Klärung einer Frage des Unionsrechts. Anderenfalls entstünde ein rechtsstaatsrechtlich und unionsrechtlich bedenkliches Rechtsschutzdefizit.
Das ergibt sich auch daraus, dass mit Blick darauf, dass der EuGH gesetzlicher Richter i.S.v. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist, sich das Gericht hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig machen muss. Dazu muss es etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren. Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht, wenn es den EuGH nicht anruft - oder wenn das BAG die Revision nicht zulässt -, unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig ("acte clair") oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt ("acte éclairé"). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des EuGH noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), wird Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn das Fachgericht das Vorliegen eines "acte clair" oder eines "acte éclairé" ohne jede Begründung oder willkürlich bejaht (BVerfG, Beschl. v. 18.7.2018 - 1 BvR 1675/16 ua., www.bundesverfassungsgericht.de).
Aber auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts ist es mit Blick darauf, dass über die Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde die berufsrichterlichen Mitglieder ohne die ehrenamtlichen Mitglieder des Senats entscheiden, nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG in hohem Maße bedenklich, wenn auf diese Weise Regel und Ausnahme verkehrt werden: Fehlte die Klärungsbedürftigkeit bislang nur dann, wenn die Beantwortung durch das Landesarbeitsgericht eindeutig und für jeden Kundigen ohne Zweifel erkennbar oder die gesetzliche oder tarifliche Regelung völlig eindeutig ist (wann ist das schon der Fall?), soll nunmehr bereits für die Zulässigkeit (!) der Beschwerde die Klärungsbedürftigkeit - nota bene bei Fehlen einer höchstrichterlichen Entscheidung - nahezu prophetisch damit begründet werden müssen, dass mit abweichenden Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte ernsthaft zu rechnen ist (wem ist eine derartige Prognose bei einer offenen Rechtsfrage seriös schon möglich?). Wenn das Prozessrecht den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, dürfen gem. Art. 19 Abs. 4 GG die Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe nicht derart erschwert werden, dass diese für den Rechtsmittelführer leerläuft. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe, sondern auch für die Auslegung und Anwendung der Zulassungsgründe selbst (Zuletzt BVerfG, Beschl. v. 6.6.2018 - 2 BvR 350/18).
RA FAArbR Axel Groeger, Bonn www.redeker.de