Verstößt Deutschland gegen die Europäische Sozialcharta?
Ein bekanntes Nachrichtenmagazin aus Hamburg berichtet, dass die Bundesregierung den Kampf gegen Lohndumping verweigere, obwohl Deutschland "seit Jahren gegen das in der Europäischen Sozialcharta verankerte Recht auf ein angemessenes Arbeitsentgelt verstößt". Dafür sei Deutschland 2010 gerügt worden.
Die Europäische Sozialcharta (ESC) ist ein Abkommen von Ländern des Europarats über soziale Rechte, das in der Bundesrepublik 1965 in Kraft getreten ist. Art. 4 ESC verpflichtet dazu, das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Die Ausübung dieses Rechts ist durch frei geschlossene Gesamtarbeitsverträge, durch gesetzliche Verfahren der Lohnfestsetzung oder auf jede andere, den Landesverhältnissen entsprechende Weise zu gewährleisten.
Nach Untersuchungen von Eurostat war im Jahre 2010 einer von sechs Arbeitnehmern im Europa der 27 ein Niedriglohnempfänger. Als Niedriglohnempfänger gelten die Arbeitnehmer, deren Bruttostundenverdienst zwei Drittel oder weniger des nationalen Medianverdienstes beträgt. In Deutschland ist fast jeder vierte Arbeitnehmer (22,2 %) Niedriglohnempfänger. Der vergleichsweise hohe Schwellenwert von 10,20 Euro wird zwar nur von wenigen anderen Ländern erreicht oder übertroffen, jedoch ist in allen diesen Ländern der Niedriglohnsektor prozentual wesentlich kleiner.
Die rechtliche Bedeutung der ESC ist umstritten: Das BAG war 2004 noch der Ansicht, Art. 4 hätte keine unmittelbare Wirkung für den einzelnen Bürger (5 AZR 303/03). Das LAG Hamm hat dem entgegengehalten, dass die Gerichte verpflichtet seien, nationale Vorschriften völkerrechtsfreundlich auszulegen (Urt. v. 18.3.2009 - 6 Sa 1284/08). Das Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen sieht als Eingriffsschwelle für den Hauptausschuss die Feststellung von sozialen Verwerfungen in einem Wirtschaftszweig vor (dazu Riechert/Stomps, RdA 2012, 81). Das BVerfG hat im letzten Jahr dem parlamentarischen Gesetzgeber aufgegeben, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen (Urt. v. 18.7.2012 - 1 BvL 10/10). Das Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 4 ESC könnte ihn verpflichten, auch zu beobachten, ob ein relevanter Teil der Bevölkerung nicht in der Lage ist, ein Arbeitsentgelt zu erzielen, das ausreicht, Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.
RA FAArbR Axel Groeger, Bonn www.redeker.de