Voreilige Strafanzeigen haben ihren Preis
Wenn ein Arbeitnehmer zu voreilig gegen seinen Arbeitgeber Strafanzeige erstattet, kann darin eine Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten liegen. Wenn die Anzeige eine unverhältnismäßige Reaktion auf das Verhalten des Arbeitgebers darstellt, kann sie sogar im Einzelfall ein Grund zur Kündigung sein (BAG, Urteil vom 27. September 2012 – 2 AZR 646/11, s. hierzu auch Reinhard, Whistleblowing im Arbeitsrecht - Wann darf und muss ein Arbeitnehmer "die Pfeife blasen", ArbRB 2015, 375). Doch wie ist es im umgekehrten Fall, bei der Anzeige des Arbeitgebers?
Liegt eine Pflichtverletzung des Arbeitgebers vor, wenn dieser gegen einen seiner Arbeitnehmer voreilig Strafanzeige erstattet? Und folgt daraus eine Verpflichtung zur Erstattung der dem Arbeitnehmer entstandenen Rechtsanwaltskosten?
Das ArbG Köln bejahte dies mit Urteil vom 6.11.2014 (Az. 11 Ca 3817/14, nach juris): „Ein Arbeitgeber, der Strafanzeige gegen seinen Arbeitnehmer erstattet hat, kann unter bestimmten Voraussetzungen aufgrund der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht verpflichtet sein, die Kosten für dessen anwaltliche Vertretung zu übernehmen.“
Hintergrund des Urteils war folgendes Geschehnis: Die Beklagte betreibt eine Geld- und Werttransportfirma, bei der der Kläger als Fahrer beschäftigt war. Im Rahmen seiner Tätigkeit übergab der Kläger einen 500 € - Schein eines Kunden zur Überprüfung seiner Echtheit der Polizei. Nach Feststellung der Echtheit und Rückerhalt des Geldscheins gab der Kläger den Schein im Personalbüro der Beklagten ab, ohne dass allerdings eine Quittung ausgestellt wurde. Als der Kunde sich später bei der Beklagten nach dem Verbleib des Geldscheins und dem Ergebnis der Echtheitsprüfung erkundigte und diese den Vorgang nicht mehr nachvollziehen konnte, nahm sie an, der Kläger hätte ihn einbehalten. Ohne interne Recherchen vorzunehmen und ohne den Kläger, der zwischenzeitlich aus privaten Gründen gekündigt hatte, zum Sachverhalt zu befragen, erstatte sie vier Wochen später Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft stellte den Prozess nach § 170 Abs. 2 StPO ein, nachdem eine firmeninterne Befragung ergab, dass die Dame, die den Geldschein entgegen genommen hatte, sich an den Vorgang erinnern konnte und außerdem zwei weitere Personen mit anwesend waren.
Die Kosten, die dem Kläger durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts entstanden sind, machte er daraufhin vor dem ArbG Köln gegen seine ehemalige Arbeitgeberin geltend. Das ArbG Köln gab der Klage statt und billigte ihm einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 567,63 € nebst Zinsen aus § 611, § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB zu.
Dass das Arbeitsverhältnis im Zeitpunkt der Strafanzeige bereits beendet war, spiele keine Rolle: „Im Arbeitsverhältnis sind eine Vielzahl von nachwirkenden Nebenpflichten anzutreffen, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer entweder kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung oder aus allgemeinen Grundsätzen treffen können. Hierzu gehört auch die (…) in § 241 Abs. 2 BGB normierte Pflicht des Arbeitgebers auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen.“
Indem die Beklagte Strafanzeige erstattete, ohne vorher den Kläger persönlich zum Sachverhalt zu befragen, habe sie ihre (nachvertragliche) arbeitgeberische Fürsorgepflicht verletzt. Der Vorfall wäre durch interne Recherchen aufzuklären gewesen, sodass die „Erstattung der Strafanzeige somit wegen der damit einhergehenden Aufklärung des Sachverhalts nicht erfolgt bzw. nicht erforderlich gewesen wäre“. (Rn. 29, nach juris)
Dass eine „voreilige“ oder „nicht erforderliche“ Strafanzeige eine Pflichtverletzung darstellen kann, erscheint aus verfassungsrechtlicher Perspektive jedoch höchst zweifelhaft. Die in der Erstattung einer Strafanzeige liegende Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte (Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip) kann regelmäßig keine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darstellen. Mit Beschluss vom 25.02.1987 (1 BvR 1086/85, BVerfGE 74, 257-263) hat das BVerfG entschieden, dass es mit den „Grundgeboten des Rechtsstaats nicht vereinbar [sei], wenn derjenige, der in gutem Glauben eine Strafanzeige erstattet hat, Nachteile dadurch erleidet, dass sich seine Behauptung nach behördlicher Prüfung als unrichtig oder nicht aufklärbar erweist.“ Dem Bürger kann nicht auf der einen Seite durch das staatliche Gewaltmonopol die Möglichkeit der Selbstjustiz genommen werden und auf der anderen Seite das Risiko der zivilrechtlichen Schadensersatzpflicht auferlegt werden.
Das ArbG Köln sieht aber eine arbeitsvertragliche Besonderheit, die zu einer Abweichung von diesem Grundsatz berechtige. Aufgrund der im Arbeitsrecht bestehenden nachvertraglichen Fürsorgepflicht sei der Arbeitgeber dazu verpflichtet, den Arbeitnehmer vor Erstattung der Strafanzeige anzuhören. Dies ergebe sich auch aus der ständigen Rechtsprechung zu Verdachtskündigungen, nach der der Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung ebenfalls anzuhören sei (Rn. 27, nach juris).
Dennoch: Eine grundsätzliche – einzelfallunabhängige – Verpflichtung des Arbeitgebers zur vorherigen innerbetrieblichen Klärung des Sachverhalts würde dem verfassungsrechtlichen Rahmen und den grundrechtlichen Positionen des Arbeitgebers aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 GG m.E. wohl nicht mehr gerecht. So gilt auch im umgekehrten Fall des Whistleblowings durch den Arbeitnehmer, dass im Einzelfall bestimmt werden muss, wann eine vorherige innerbetriebliche Anzeige ohne weiteres zumutbar ist und ein Unterlassen ein pflichtwidriges Verhalten darstellt (BAG, Urteil vom 03. Juli 2003 – 2 AZR 235/02 –, BAGE 107, 36-49).
Auch das ArbG Köln stellt – ohne es explizit so zu nennen – eine Abwägung im Einzelfall an, um die widerstreitenden Interessen in einen Ausgleich zu bringen. Das Ergebnis ist nachvollziehbar: Die Beklagte hätte durch einen geringen Aufwand einen Prozess und den damit einhergehenden Schaden für den Kläger verhindern können. Dies wäre ihr auch ohne weiteres zumutbar gewesen, so dass in diesem Fall ihre Interessen hinter denen des Klägers zurückstehen müssen.