Vorlagebeschluss des BAG an den EuGH zur Auslegung der MERL
Der Zweite Senat hat auf eine Anfrage des Sechsten Senats des BAG den EuGH zur Auslegung von Vorschriften der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG vom 2.7.1998 (MERL) angerufen (BAG, Beschl. v. 1.2.2024 – 2 AS 22/23 (A)).
Der Zweite Senat weist im Einklang mit dem Sechsten Senat darauf hin, dass, wenn das Konsultationsverfahren nach Art. 2 MERL vor Ausspruch der Kündigungen gänzlich unterblieben oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, die Kündigungen nach § 134 BGB nichtig sind. Denn das Konsultationsverfahren diene - anders als das Anzeigeverfahren - vorrangig der Vermeidung von Kündigungen. Dieser Zweck könne durch eine Nachholung der Konsultationen im Anschluss an den Ausspruch der Kündigungen nicht mehr erreicht werden. Es wäre nicht gewährleistet, dass die Beratungen von Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung zur Vermeidung von Kündigungen ergebnisoffen durchgeführt werden. Für die Arbeitnehmervertretung wäre es sehr viel schwieriger, die „Rücknahme“ einer bereits erklärten Kündigung zu erreichen, als den Verzicht auf ihren lediglich geplanten Ausspruch.
Der Zweite Senat hält die Auffassung, dass das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer nach Unionsrecht oder nationalem Recht erforderlichen Massenentlassungsanzeige keinerlei rechtlichen Einfluss auf die Beendigung des gekündigten Arbeitsverhältnisses hat, für nicht mit Unionsrecht vereinbar. Geboten ist aus Sicht des Zweiten Senats vielmehr eine differenzierte Betrachtung. Entscheidend ist, ob der Arbeitgeber von einer nach Unionsrecht erforderlichen Massenentlassungsanzeige gänzlich abgesehen oder eine solche erstattet hat.
- Erstattet der Arbeitgeber keine Massenentlassungsanzeige, erhält die nach nationalem Recht für die Arbeitsvermittlung zuständige Agentur für Arbeit keine Kenntnis von den bevorstehenden Entlassungen. Dementsprechend ist sie nicht in der Lage, die notwendigen Vorbereitungen für die Vermittlungsbemühungen der von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer einzuleiten. Für diesen Fall der gänzlich unterbliebenen Massenentlassungsanzeige möchte der Zweite Senat die Auffassung vertreten, dass die Rechtswirkungen der vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung erst dann eintreten, wenn die Massenentlassungsanzeige nachträglich erstattet, das heißt nachgeholt worden ist und der Agentur für Arbeit die aus ihrer Sicht notwendige Vorbereitungszeit für die Vermittlung zur Verfügung steht. Dieser Zeitraum bestimmt sich im nationalen Recht nach § 18 Abs. 1 und 2 KSchG (sog. Entlassungssperre). Das gekündigte Arbeitsverhältnis besteht bis zum Ablauf der Entlassungssperre mit seinen bisherigen Rechten und Pflichten fort. Bestünde hingegen nach den Vorgaben in Art. 4 MERL keine Möglichkeit für den Arbeitgeber, eine zunächst unterbliebene Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung nachzuholen und damit die Entlassungssperre zu beseitigen, käme dies der Nichtigkeit (Unwirksamkeit) der Kündigung gleich. In diesem Fall müsste der Zweite Senat auf die Anfrage des Sechsten Senats antworten, dass er - der Zweite Senat - an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält.
- Werden der Agentur für Arbeit die beabsichtigten Massenentlassungen angezeigt, hat der Arbeitgeber ein Verwaltungsverfahren eingeleitet, in dem die Vollständigkeit der Massenentlassungsanzeige von der Behörde geprüft wird. Für dieses gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 20 SGB X), das heißt die Agentur für Arbeit ist verpflichtet, auf die Ergänzung von unvollständigen Angaben durch den Arbeitgeber hinzuwirken. Über die Ordnungsgemäßheit der Anzeige und die Dauer der erforderlichen Vorbereitungszeit für die bevorstehende Arbeitsvermittlung entscheidet nach nationalem Verfahrensrecht allein die Agentur für Arbeit. Stellt die Behörde den Ablauf der Entlassungssperre zu einem konkreten Datum fest, ist diese Entscheidung aus Sicht des Zweiten Senats für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend. Letztere dürfen in diesem Fall nicht in eigener Kompetenz annehmen, die Massenentlassungsanzeige sei „eigentlich“ fehlerhaft gewesen und deshalb die Entlassungssperre (noch) nicht an- und abgelaufen.
- Der Zweite Senat geht aufgrund der „alternativen“ Formulierung in Art. 6 MERL sowie deren Erwägungsgrund 12 („administrative und/oder gerichtliche Verfahren“) davon aus, dass es ausreicht, wenn allein die nach nationalem Recht zuständige Behörde eine vom Arbeitgeber erstattete Massenentlassungsanzeige auf ihre Ordnungsgemäßheit hin prüft und bejahendenfalls das Ende der Entlassungssperre im konkreten Fall feststellt. Die behördliche Feststellung zum Ende der Entlassungssperre ist von den Gerichten für Arbeitssachen im Rahmen eines Streits über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber als bindend zugrunde zu legen. Der Arbeitnehmer kann die behördliche Feststellung nicht mit einem gerichtlichen Rechtsbehelf anfechten. Das folgt nach Auffassung des Zweiten Senats aus der rein arbeitsmarktpolitischen Ausrichtung des Anzeigeverfahrens. Dieses schützt - anders als das Konsultationsverfahren - primär den Arbeitsmarkt und die zuständige Behörde. Demgegenüber ist der Arbeitnehmer bloß reflexhaft betroffen. Er soll sein „altes“ Arbeitsverhältnis erst verlieren, nachdem es der zuständigen Behörde auf der Grundlage der erforderlichen Angaben möglich war, nach Lösungen für die durch die Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 MERL). Sieht die Behörde sich diesbezüglich ausreichend informiert, haben der Arbeitnehmer und die Gerichte dies zu akzeptieren.
Es bleibt abzuwarten, bis der EuGH die Fragen zur Auslegung der MERL beanwortet hat.
RA FAArbR Axel Groeger, Bonn www.redeker.de