Wer trägt die Verantwortung? Konsequenzen aus dem Urteil des BAG zum Betriebsrisiko bei behördlicher Schließung infolge der Corona-Pandemie
Vor dem höchsten deutschen Arbeitsgericht wurde am 13.10.2021 über eine vermeintlich klare Angelegenheit entschieden. Der Grundsatz „Ohne Arbeit, kein Lohn“ ist durch die Betriebsrisikolehre eingeschränkt. Arbeitgebende haften grundsätzlich allein für betriebsbedingten Arbeitsausfall. Das Risiko eines pandemiebedingten Arbeitsausfalls ist nach der jüngsten Entscheidung des BAG[1] jedoch Staatssache. Der will, wenn es um 450-€-Kräfte geht, davon allerdings auch nichts wissen. Ein Ergebnis mit Nachbesserungsbedarf?
In Erwartung des Urteils des BAG zur Sache 5 AZR 211/21 vom 13.10.2021[2] dürften sich jedenfalls einige Studierende der Rechtswissenschaften innerlich schon darauf vorbereitet haben, Zahlungsaufforderungen an (ehemalige) Arbeitgebende verschicken zu dürfen. Früh übt sich! Schließlich war die Klägerin mit ihrer Klage auf Lohnfortzahlung während des Lockdowns und dem dadurch bedingten Arbeitsausfall in beiden Vorinstanzen erfolgreich gewesen und auch ein ähnlicher Fall war vor dem LAG Düsseldorf (8 Sa 674/20 vom 30.03.2021) zu Gunsten der Klägerin entschieden worden. Ansprüche nach dem MiLoG verjähren in der Regelfrist (§§ 195,199 BGB), so dass zumindest eine entsprechende Aufforderung in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns auch noch nach anderthalb Jahren Pandemie Erfolg versprechend gewesen wäre. Auch das Prozesskostenrisiko vor Arbeitsgerichten ist in erstinstanzlichen Sachen beispielsweise bei einem Streitwert von 450 € mit Gerichtskosten in Höhe von 76 € überschaubar. Die Wende des BAG kam dann doch – auch im Hinblick auf die grundsätzlich eher arbeitnehmendenfreundlichen Entscheidungen der Arbeitsgerichtsbarkeit – überraschend und lässt jedenfalls hinsichtlich der Verantwortung für den Lohnausfall ein großes Fragezeichen zurück.
Infolge der Entscheidung entsteht die paradoxe Situation, dass der Gesetzgeber trotz der vom BAG festgestellten Verantwortlichkeit mehr oder weniger klar die Verantwortung für geringfügig Beschäftige von sich weist. Eine den §§ 95 Nr. 3, 98 Abs. 1 SGB III iVm. § 8 Abs. 1 SGB IV (Kurzarbeitergeld für Sozialversicherungspflichtige) vergleichbare Regel gibt es für diesen Lohnsektor schlicht nicht. Auch speziell auf Pandemien angepasste Ersatzansprüche wie §§ 30, 56 IFSG passen auf den zugrunde liegenden Sachverhalt nicht, da sie eine Absonderung des Anspruchsstellers voraussetzen, die wegen Erkrankung oder dem Verdacht auf Erkrankung behördlich angeordnet wird. Angesichts des Ausmaßes dieser Art von Beschäftigungsverhältnissen, kann es sich bei dieser Lücke kaum um ein Versehen gehandelt haben. Zumal das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter Berücksichtigung der Entscheidung des BAG auf diesen Umstand mittlerweile hinweist.[3] Diese Situation ist Konsequenz daraus, dass nach Ansicht des BAG pandemiebedingte Schließungen kein im Betrieb angelegtes Betriebsrisiko sind, welches von Arbeitgebenden zu tragen wäre. Vielmehr weist das BAG in seiner jüngsten Entscheidung dem Staat diese Verantwortung zu. Damit sind Arbeitgebende entlastet. Doch auch Arbeitnehmende sollen jedenfalls nach Ansicht des höchsten deutschen Arbeitsgerichts die Verantwortung nicht tragen müssen.
Muss der Gesetzgeber nachbessern? Beschäftigungsverhältnisse auf 450€-Basis verfolgen den Zweck, kurzfristigen Arbeitsbedarf bei Unternehmen schnell und unkompliziert zu decken. Außerdem sollen sie für den Arbeitnehmenden einen bürokratisch unkomplizierten Zugang zu Nebenverdienst ermöglichen. Jedenfalls in der Theorie dienen diese Beschäftigungsverhältnisse den Arbeitnehmenden nicht zur Existenzsicherung, sondern zur Einkommensaufbesserung und sind daher aus Sicht des Staates und der Gesellschaft augenscheinlich weniger schützenswert als Hauptbeschäftigungsverhältnisse, die für das Überleben des Arbeitnehmenden unstreitig essenziell sind.
Zumindest aus Sicht des BAG ist die Antwort auf die Frage nach der Verantwortung eindeutig. Es ist Aufgabe des Staates, pandemiebedingte Arbeits- und damit Lohnausfälle, die ihren Grund im Schutz der Bevölkerung vor Erkrankung haben, zu tragen. Eine Differenzierung nach Art der Arbeitnehmendenverhältnissen nimmt das BAG – zumindest ausweislich der Pressemitteilung (die Entscheidungsgründe sind noch nicht veröffentlicht) – nicht vor. Dies ist im Hinblick auf die Realität vieler Arbeitnehmenden auch konsequent. Insbesondere Studierende, aber auch andere Beschäftigte im Niedriglohnsektor, sind auf solche Jobs angewiesen, um die finanziellen Herausforderungen des Alltags bestreiten zu können.
Auch das Bundesbildungsministerium musste einsehen, dass die Lage für viele Studierende sehr ernst wurde und machte daraufhin Nothilfen verfügbar.[4] Ein Anspruch bestand dabei nur, wenn das Konto faktisch leer war. Der Höchstbetrag von 500 € wurde erst ab einem nachgewiesenen Kontostand von unter 100 € gewährt.[5] Ein unwürdiger Umstand. Warum sollen auch geringfügig beschäftigte Studierende gezwungen sein, jegliche Rücklage aufzubrauchen, bevor der Staat einspringt? Ein Arbeitsverhältnis soll derartige finanziellen Schieflagen gerade verhindern. Es ist also dringend angezeigt, betroffene Menschen aus dem Arbeitsverhältnis heraus zu sichern, nicht erst auf Grundlage einer äußerst gravierenden Existenzbedrohung. Eine Nachbesserung durch den Gesetzgeber ist daher m.E. dringend erforderlich.
Kann er es denn auch? Jedenfalls im Hinblick auf vergangene Lockdowns dürfte es kaum möglich sein, nachzubessern. Dem steht wohl das verfassungsrechtliche Verbot der Rückwirkung entgegen. Um sich der Lösung zu nähern, muss der Sachverhalt zunächst in eine der beiden Kategorien von Rückwirkung eingeordnet werden. Man unterscheidet zwischen echter und unechter Rückwirkung. Erstere ist generell unzulässig, nur in Ausnahmefällen möglich und hat dabei einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Sachverhalt zum Gegenstand. Letztere behandelt einen Sachverhalt, der zwar in der Vergangenheit beginnt, aber immer noch fortwirkt. Diese Art der Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig. Hier handelt es sich um einen Fall der echten Rückwirkung, schließlich liegt der coronabedingte Arbeitsausfall in der Vergangenheit und wirkt auch nicht mehr fort. Fraglich ist also, ob eine rückwirkende Anpassung durch den Gesetzgeber ausnahmsweise möglich ist. Solche Ausnahmen sind möglich, wenn entweder schutzwürdiges Vertrauen der Belasteten fehlt oder, wenn überragende Belange des Gemeinwohls vorliegen, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen.[6] Bereits hier wird deutlich, dass die Hürden sehr hoch sind. Trotz der bis zur Entscheidung des BAG bestehenden Zweifel an der Risikoverteilung, muss im Ergebnis ein berechtigtes Vertrauen von Arbeitgebenden in die bestehende Rechtslage berücksichtigt werden. Schließlich sind auch sie gebeutelt durch Betriebsschließungen und Umsatzausfälle. Eine vorschnelle Risikozuweisung war aufgrund der beispiellosen Lage schlicht nicht geeignet, um das berechtigte Vertrauen der Arbeitgebenden bereits zu Beginn der Pandemie zerstört zu haben. Diese Einschätzung bestätigt das BAG mit dem Urteil gerade. Der Ausgleich pandemiebedingten Lohnausfalls ist Staatssache. Trotz der besonderen Herausforderungen im Einzelfall wäre die Annahme überragender Belange des Gemeinwohls zu weitgehend. Insgesamt dürfte eine solche Nachbesserung also tatsächlich aus verfassungsrechtlichen Gründen kaum möglich sein.
Für die Zukunft bleibt aus Arbeitnehmendensicht also zu hoffen, dass der Gesetzgeber für künftige pandemiebedingte Betriebsschließungen und daraus resultierende Arbeitsausfälle eine Regelung, etwa nach dem Vorbild des Kurzarbeitergelds, auch für geringfügig Beschäftigte einführt. Der Rückgriff auf punktuelle Nothilfepakete trägt weder dem Umstand Rechnung, dass Arbeitnehmende das Bedürfnis haben, die eigene finanzielle Sicherheit dauerhaft zu erhalten, noch der grundsätzlichen Bedeutung, welche die Gesellschaft dem bestehenden und erhaltungswürdigen Arbeitsverhältnis zumisst. Damit dürfte auch der Griff in die Staatskassen zu rechtfertigen sein, zu dem die Entscheidung des BAG nun drängt.
[1] Entscheidungsbesprechung von Prof. Dr. Michael Fuhlrott: Kein Lohnanspruch bei Corona Lockdown, abgerufen unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bag-urteil-5azr21121-betriebsrisiko-arbeitgeber-behoerdliche-schliessung-corona-lohnanspruch-geringfuegig-beschaeftigte/ (zuletzt am 21.10.2021)
[2] Inhaltliche Grundlage ist die entsprechende Pressemitteilung des BAG, abgerufen unter https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/betriebsrisiko-und-lockdown/ (zuletzt am 21.10.2021)
[3] Minijobs im gewerblichen Bereich: Habe ich als Minijobber einen Anspruch auf meinen Verdienst, wenn der Arbeitgeber die Betriebstätigkeit reduzieren bzw. vollständig einstellen muss? abgerufen unter: https://www.minijob-zentrale.de/DE/01_minijobs/01_basiswissen/01_grundlagen/09_corona_faq/basepage.html (zuletzt am 21.10.2021)
[4] ZDF heute, Ab November wegen Lockdown, Studierende bekommen wieder Corona-Nothilfe, abgerufen unter: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/studierende-corona-hilfe-100.html (zuletzt aufgerufen am 21.10.2021)
[5] Studentenwerke, FAQs zur Überbrückungshilfe für Studierende in pandemiebedingten Notlagen, abgerufen unter: https://www.studentenwerke.de/de/content/ueberbrueckungshilfe-fuer-studierende (zuletzt aufgerufen am 21.10.2021)
[6] BVerfG: Verfassungsmäßigkeit des Restitutionsausschlusses, NJW 2000, 413ff (415).