Zugang von Kündigungsschreiben und Treu und Glauben
Die Diskussionen um Zugangsfragen im Blog vom 06.04.2016 hat mich noch weiter mit der Frage befasst, wann eine (unberechtigte) Annahmeverweigerung eines Kündigungsschreibens nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) den Zugang fingieren lassen kann. Dazu sind zwei neuere Entscheidungen des Arbeitsgerichts Berlin und des LAG Hamburg sehr instruktiv.
1. Das LAG Hamburg hatte in einem Urteil vom 08.04.2015 (5 Sa 61/14) den Fall zu behandeln, dass einem Arbeitnehmer per Einschreiben mit Rückschein eine fristgemäße Kündigung übersandt worden war. Der Benachrichtigungsschein des Postboten war eingeworfen worden, das Einschreiben bei der Post hinterlegt, dort vom klagenden Arbeitnehmer nicht abgeholt und an den beklagten Arbeitgeber zurückgesandt worden.
Das LAG Hamburg hat darauf abgestellt, dass allein der Benachrichtigungsschein des Postzustellers zugegangen ist. Der Benachrichtigungsschein unterrichte nur darüber, dass eine Einschreibesendung bereit liegt und enthält keinen Hinweis auf den Absender des Einschreibebriefes. Der Empfänger weiß nicht, welche Angelegenheit die Einschreibesendung zum Gegenstand hat. Ihm kann daher bei Nichtabholung kein arglistiges Verhalten vorgeworfen werden (so auch BGH 18.12.1970 – IV ZR 52/69; BAG v. 15.11.1962 – 2 AZR 301/62; jurisPK-BGB-Reichold, 7. Aufl. § 130 BGB Rn. 30). Der Einschreibebrief ist also erst zugegangen, wenn der Brief dem Empfänger oder einem von ihm zur Abholung Bevollmächtigten ausgehändigt wird.
Der BGH hat eine Zugangsfiktion diskutiert, diese aber nur dann angenommen, wenn der Adressat aufgrund vorangegangenen Verhaltens (z.B. Vertragsabschlüsse, Vertragsverhandlungen) mit dem Eingang von bestimmten Erklärungen hatte rechnen müssen (BGH v. 26.11.1997 – VIII ZR 22/97, BGHZ 137, 205-211). Eine Zugangsfiktion wird beispielsweise dann bejaht, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer aufgrund eines Verfahrens beim Integrationsamt (§ 102 SGB IX) damit rechnen muss, dass ihm eine Kündigung zugehen wird (BAG v. 07.11.2002 – 2 AZR 475/01; jurisPK-BGB-Reichold, a.a.O.).
Anders gesagt: Kann der Arbeitnehmer mit einem Kündigungsschreiben nicht rechnen, kommt eine Zugangsfiktion regelmäßig nicht in Betracht. Sinnvoll ist es dann, die Zustellung eines Kündigungsschreibens durch einen Anruf des Arbeitgebers beim Arbeitnehmer zu begleiten, um die Kenntnis über die zu erwartende Zustellung herbeizuführen, oder noch besser einen eigenen Boten des Arbeitgebers einzusetzen oder einen Kurierdienst, der ein genau dokumentiertes Zugangsprotokoll fertigt, und so den Zugang herbeizuführen. Denkbar ist auch die förmliche Zustellung nach § 132 BGB.
Das LAG Hamburg hat in dem Urteil die drei - kumulativ notwendige - Voraussetzungen der Zugangsfiktion i.S. einer Checkliste aufgezählt (Rn. 31 bis 33 nach juris):
- Ein Benachrichtigungsschein muss im Briefkasten, also im Machtbereich des Empfängers, hinterlassen worden sein.
- Der Arbeitnehmer muss mit dem baldigen Zugang eines Kündigungsschreibens rechnen. Nur dann muss er Empfangsvorkehrungen treffen. Soweit der Arbeitnehmer keinen konkreten Anlass hat, mit einer Kündigung zu rechnen, wovon im Zweifel nach Auffassung des LAG Hamburg auszugehen ist, nutzt die Rechtsprechung dem Arbeitgeber nichts.
- Die dritte Anforderung an die Fiktion ist, dass der die Kündigung erklärende Arbeitgeber nach erlangter Kenntnis vom nicht erfolgten Zugang unverzüglich einen neuen Zustellversuch unternommen haben muss (Rn. 33 des Urteils). Der Arbeitgeber muss alles „Erforderliche und Zumutbare getan“ haben, damit die Erklärung den Adressaten erreichen konnte. In der Regel gehört dazu, dass der Kündigungserklärende unverzüglich einen erneuten Zustellversuch unternimmt. Hierzu verweist das LAG Hamburg auf BAG v. 03.04.1986 – 2 AZR 258/85 unter II.4 e), BGH v. 26.11.1997 – VIII ZR 22/97 unter Verweis auf RGZ 110, 34, 37 sowie BGH v. 13.06.1952 – I ZR 158/51, LM BGB § 130 Nr. 1.
Im konkreten Fall hatte der Arbeitgeber nach Ablauf der Lagerfrist das Einschreiben zurückerhalten und nicht unverzüglich einen weiteren Zustellversuch unternommen. Die Kündigung erfolgte dann erst drei Monate später, dann richtigerweise per Boten. Eine lehrreiche Entscheidung, die verdeutlicht, dass die oft genutzte Praxis der Zustellung per Einschreiben/Rückschein eine falsche ist. Sinnvoll ist es, die Kündigung per Boten/Kurierdienst zuzustellen oder direkt zu übergeben und sich den Zugang quittieren zu lassen.
2. Mit der Fragestellung einer (gescheiterten) Übergabe befasst sich das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin v. 30.10.2015 - 28 Ca 10591/15.
Mit einem „Sales-Manager“, der Versicherungsverträge für elektronische Geräte von Endkunden vermittelte, war ein Personalgespräch geführt worden, bei dem der beklagte Arbeitgeber den Arbeitnehmer mit Umständen konfrontierte, die der Arbeitgeber für einen Grund zur fristlosen Kündigung innerhalb der Sechs-Monats-Frist hielt. Da das Arbeitsgericht Berlin Gründe für eine außerordentliche Kündigung nicht erkennen konnte, kam es darauf an, ob innerhalb der Sechs-Monats-Wartefrist (wenigstens) die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung zugegangen war.
Der Arbeitnehmer hatte in dem (Streit-)Gespräch am 17.07.2015, indem ihm der Arbeitgeber ein vorbereitetes Kündigungsschreiben aushändigen wollte, erklärt, der Arbeitgeber solle ihm alles, was sie ihm an Schreiben zukommen lassen wolle, zusenden. Er „nehme heute nichts entgegen“, so seine wörtliche Erklärung, bevor er das Gespräch (und den Raum) ohne Kündigungsschriftstück verließ.
Das Arbeitsgericht Berlin sieht in dem Streitfall ein „Paradebeispiel dessen, was die leidgeprüfte forensische Praxis seit vielen Jahrzehnten als sog. „Zugangsvereitelung" in ihre Doktrinen aufgenommen haben.“ ( so wörtlich zitiert).
Nach § 162 Abs. 1 BGB sei dem Empfänger einer verkörperten Willenserklärung die Berufung darauf, ihm sei ein Schriftstück nicht oder nicht rechtzeitig zugegangen, zu verwehren, wenn er das Schriftstück zurückgebe oder nicht entgegennehme. Hier sei es so gewesen, dass sich der Kläger nicht nur unstrittig geweigert hatte, „etwas entgegenzunehmen“, sondern darüber hinaus die Arbeitgeberin aufgefordert hatte, „ihm alles, was sie ihm an Schreiben zukommen lassen wolle“, zuzusenden. Im Ergebnis sei es daher richtig, den Kläger so zu behandeln, als sei ihm das Kündigungsschreiben im Personalgespräch am 17.07.2015 zugegangen.
Ich meine, dass es sich nicht nur um eine Zugangsvereitelung gehandelt hat, sondern in dieser Konstellation der verweigerten Annahme sogar schon um einen Zugang. Verkörperte Willenserklärungen gehen zu, wenn sie durch Übergabe in den Herrschaftsbereich des Empfängers gelangen, § 130 Abs. 1 BGB gilt entsprechend (juris PK-BGB-Reichold, § 130 BGB, Rz. 33). Der Adressat einer persönlich übergebenen schriftlichen Kündigungserklärung kann ihren Zugang nicht dadurch hinauszögern oder verhindern, dass er den Brief ungeöffnet an den Überbringer zurückgibt.
Genügend für den Zugang ist es, dass der Kündigungsempfänger ohne weiteres die Kenntnis vom Inhalt des Schreibens hätte erlangen können (so LAG Sachsen v.11.02.2003 – 7 Sa 292/092; LAG Köln v. 04.09.2007 – 14 Ta 184/07; LAG Köln v. 26.02.2010 – 11 Sa 828/99). Maßgeblich ist, dass der Empfänger in der Lage ist, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen (jurisPK-BGB-Reichold, a.a.O.). Das war hier der Fall, der gekündigte Arbeitnehmer war in der Lage, das Kündigungsschreiben zur Kenntnis zu nehmen, er hat sich dem nur versperrt. Die Kündigung war schon zugegangen, ohne dass es auf die Frage einer Zugangsvereitelung ankommt.
Was meinen Sie?