Anonymität im Internet: Heilige Kühe schlachtet man nicht!
Prominente Urheberrechtsvertreter aus Wissenschaft und Praxis fordern das Ende der Netzanonymität – ein Ansinnen, das nicht widerspruchslos hingenommen werden darf und ein Anlass, sich mit den Funktionen der Anonymität im Internet auseinanderzusetzen:
Tabubruch, Meuterei und Spoyaufstand
Als sich 1857 innerhalb der britisch-indischen Streitkräfte das Gerücht verbreitete, die von der Kolonialmacht bereitgestellte Munition der Enfield-Gewehre sei mit einer Mischung aus Rindertalg und Schweineschmalz behandelt worden, führte dies bald zur Meuterei unter den moslemischen und hinduistischen Soldaten der Einheiten. Da die Munition vor ihrer Verwendung mit den Zähnen an einem gefalzten Ende abgebissen werden musste, hätte das Fett der für sie heiligen Tiere Kontakt mit den Lippen der Männer gehabt, was zu deren religiöser Unreinheit geführt und ihnen eine Rückkehr zu ihren Familien unmöglich gemacht hätte. Auch eine spätere Umstellung der Imprägnierung auf ein Bienenwachs-Butterschmalz-Gemisch konnte nichts mehr daran ändern, dass durch diesen Tabubruch der Kolonialherren der ‚Spoyaufstand‘ losbrach.
Widerstand gegen datenschutzrechtlichen Tabubruch
Wenn der Forderung der Konferenz „Initiative Urheberrecht“ nach einer Aufgabe der Anonymität des Netzes, einer „heilige[n] Kuh für viele Nerds“ (so Prof. Spindler), nachgegeben wird, so muss sicher nicht mit gewalttätigen Ausschreitungen gerechnet werden. Ein gewisser Widerstand gegen einen solchen datenschutzrechtlichen Tabubruch regt sich, angesichts dieser weitreichenden und keinesfalls alternativlosen Forderung, gleichwohl und zu Recht. Denn ebenso wie kulturelle oder religiöse Sitten sind auch Rechtsgrundsätze lediglich der sichtbare Ausdruck eines hinter ihnen stehenden komplexeren Systems. So stellt die Anonymität der Internetnutzung als einfachste Methode sicher, dass der Grundsatz der Datensparsamkeit geachtet wird und dass ein Personenbezug nur dort besteht, wo er bestehen muss. Dies wiederum ist ein Datenschutzprinzip der ersten Stunde zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung, was zugleich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Internetanonymität beantwortet.
Schutzaufgabe des Staats
Vor diesem Hintergrund nimmt der Staat mit der Ermöglichung von Anonymität im Netz eine Schutzaufgabe wahr, an deren effektiver Erfüllung seit Schlachtung der ‚Kein Abhören unter Freunden‘-Kuh bereits erhebliche Zweifel bestehen. Mit Bekanntwerden dieses im Geheimen vollzogenen Opferrituals, ist zumindest das Bewusstsein, dass Surfen im Netz etliche, für Dritte interessante, Datenspuren hinterlässt, auch in der breiten Bevölkerung gewachsen. Der Kreis der ‚Nerds‘, die sich für die Anonymität aussprechen, dürfte somit weit größer sein als es die stereotype Bezeichnung nahelegt. Wie aber ein effektiver Schutz gegen den Missbrauch eines deanonymisierten Internets aussehen soll, beantwortet der Vorstoß der Urheberrechtskonferenz trotz der offensichtlich entgegenstehenden Bedenken nicht.
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Aussichtslosigkeit einer Klarnamenpflicht
Eine Klarnamenspflicht im ‚world wide web‘, in dem nationalen Regelungen ohnehin nur eine sehr begrenzte Wirkung zukommt, wäre nicht nur technisch zu umgehen, sie brächte deutsche und gegebenenfalls europäische Internetangebote auch in eine der internationalen Konkurrenz wesentlich unterlegene Position. Denn die berechtigte Skepsis vieler Deutscher und Europäer, was mit Daten geschieht, derer man sich im Internet entäußert, sitzt tief ("EU-Datenschutzreform: Einigung im Trilog", CRonline News v. 16.12.2015). Wenn der Nutzer vor diesem Hintergrund dann die Wahl zwischen dem nationalen Klarnamen-Angebot und der anonymen internationalen Alternative hat, ist seine Entscheidung wohl absehbar.
Vorteile von Anonymität für Rechteinhaber
Nicht bedacht wurde zudem, dass die Anonymität auch große Vorteile, gerade für Urheberrechtsinhaber, bietet. Big Data Analysen, mit denen in Zukunft auch die Frage nach dem „Will it play in Peoria?“ weit im Vorfeld kostenintensiver Produktionen beantwortet werden wird und die Netflix schon heute sehr erfolgreich einsetzt, sind nach gegenwärtigem Gesetzesstand nur mit anonymisierten Daten rechtmäßig durchführbar. Anonymität im Netz ist somit keine vor Rechtsverfolgung Krimineller schützende Einbahnstraße, sondern auch ein Garant für Unternehmen, solche Auswertungen in größtmöglichem Maße vornehmen zu können.
Urheberrecht vs. Informationelle Selbstbestimmung im Rechtsstaat
Nicht zuletzt wirft die Forderung der Urheberrechtskonferenz auch die Frage auf, wieso das Spannungsverhältnis zwischen der zu bekämpfenden Rechtsverletzung an kommerzialisierten Urheberrechten und der zu schützenden informationellen Selbstbestimmung von Bürgern gerade zu Lasten Letzterer und damit den größtenteils redlichen Usern aufgelöst werden sollte. Müsste angesichts eines solchen Präzedenzfalles nicht mit den gleichen Argumenten auch die Deanonymisierung der analogen Welt betrieben werden?
Es wäre kaum zu rechtfertigen, bei möglichen Vermögensschäden auf einer Preisgabe von Personendaten zu bestehen, angesichts der möglichen Verletzung von höherwertigen Rechtsgütern, zum Beispiel von Leib oder Leben durch Ausschreitungen bei politischen Kundgebungen, aber, auf sie zu verzichten. Damit wäre dann zugleich der Weg geebnet, jede Form der anonymen Meinungsäußerung zu verhindern und der notwendigen Absicherung des Rechtsstaates ein wesentliches Fundament entzogen. Grundrechte schützen insbesondere vor Missbrauch, und dies tut die Anonymität in ihrem Kern auch.
Fazit: Wehret den Anfängen
Wir leben weder im kolonialen Indien, noch ist der Rechtsstaat in Deutschland (und Europa) an sein Ende gelangt. Auch steht außer Frage, dass Persönlichkeitsrechts- und natürlich auch Urheberrechtsverletzungen die Kehrseite der Anonymität des Netzes darstellen. Das Anliegen, sie zu verhindern und zu ahnden, ist in einer Gesellschaft, in der Ideen das Kapital der Wirtschaft sind und digitale Persönlichkeitsrechtsverletzungen einen Menschen ein Leben lang begleiten können, ohne jeden Zweifel legitim. Dies darf aber nicht zu einer einseitigen Benachteiligung der größtenteils redlichen Internetnutzer führen. Dies käme nämlich eher einer Notkeulung eines bis dato - aus gutem Grund - gehegten Rechtsprinzips gleich.