21.03.2020

Corona: Nur kritische Fragen sind alternativlos

Portrait von Niko Härting
Niko Härting

Wir erleben in diesen Tagen die empfindlichsten Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die die Bundesrepublik Deutschland je erlebt hat. Die Bilder aus Italien sind schockierend, und der Virus breitet sich auch hierzulange erschreckend schnell aus. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass der Virus Recht und Gesetz nicht außer Kraft setzt. Kritische Fragen müssen erlaubt bleiben.

Die schwere Last der Politik

Die Corona-Maßnahmen dieser Woche sind mit empfindlichen Einschnitten in das öffentliche Leben verbunden. Schließungen und Verbote bedrohen die Existenz von Millionen Gewerbetreibenden und Solo-Selbstständigen. Künstler und Fitnesstrainer, Kamerafrauen und Eventmanager, Veranstalter und Theaterbetreiber stehen plötzlich ohne Einnahmen da. Hundertausende Arbeitnehmerinnen werden in die Kurzarbeit geschickt oder entlassen ("FAQ zu Corona im Arbeitsverhältnis: Das müssen Arbeitgeber und ihre Beschäftigten wissen", arbrb.de  20.3.2020). Die Straßen leeren sich, die Wohnung darf vielerorts nur noch „aus triftigem Grund“ verlassen werden.

Die Frage, ob der Staat zu diesen einschneidenden Maßnahmen berechtigt ist, wird zu selten gestellt. Wir alle stehen unter dem Eindruck der grauenhaften Bilder aus Krankenhäusern in Norditalien. Der Coronavirus ist eine Gefahr, die man nicht sieht, schmeckt oder fühlt. Sie weckt menschliche Urängste, viele von uns fühlen sich an Horrorfilme erinnert.

Ob der Virus aufzuhalten ist, ob die „Kurve“ abgeflacht werden kann, die Intensivstationen der Krankenhäuser vor Überfüllung bewahrt werden können: Niemand weiß dies zurzeit (NDR, Coronavirus-Update mit Christian Drosten, "(18) Die Wirksamkeit von Ausgangssperren ist unklar", 20.03.2020). Die Experten können dies ebenso wenig vorhersehen wie die Zeichner der vielen Graphen, die wir Tag für Tag anschauen. Auch die Politiker wissen nicht, wie sich der Virus in den nächsten Wochen verbreiten und welche Folgen dies haben wird. Wer unter diesen Umständen Entscheidungen über Verbote und Schließungen treffen muss, ist nicht zu beneiden.

Kritische Fragen müssen dennoch erlaubt sein

Dennoch bleibt es erlaubt, nach den rechtlichen Grundlagen zu fragen, die für die Entscheidungen der Regierenden gelten. Es ist nicht nur erlaubt, sondern auch erforderlich zu fragen, ob es für die tiefen, oft existenziellen Einschränkungen hinreichende gesetzliche Befugnisse gibt. Bürgerrechte sind kein Luxusgut, das man sich nur in guten Zeiten gönnt. Das Gegenteil ist richtig:

In Zeiten der Unsicherheit und Lebensgefahr setzen die Grundrechte den Regierenden Schranken. Unsere Grundrechte sollen verhindern, dass Sicherheit in Krisenzeiten zum Maß aller Dinge wird.

Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit muss auch in Zeiten von Corona gewahrt bleiben. Corona unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von den Zeiten des westdeutschen Terrorismus der 1970er Jahre und von den gesellschaftlichen Erschütterungen nach dem Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon am 11.9.2001.

Die Lehren der AIDS-Krise

Die Maßnahmen, die die Bundesländer in dieser Woche zur Bekämpfung der Corona-Pandemie getroffen haben, stützen sich auf das Infektionsschutzgesetz, das bis zur Jahrtausendwende Bundes-Seuchengesetz hieß. Neuere Literatur und Rechtsprechung zu diesem Gesetz findet man kaum. Die letzte größere Seuche, bei der infektionsrechtliche Maßnahmen diskutiert und gelegentlich auch angewendet wurden, war AIDS.

In den 1980er-Jahren machte sich Peter Gauweiler zunächst als junger Leiter des Kreisverwaltungsamts München und später als Staatssekretär des Bayerischen Innenministeriums im Kabinett von Franz-Josef Strauß bundesweit einen Namen durch Forderungen, das Seuchenrecht rigoros zur Bekämpfung von AIDS anzuwenden:

„Mit ihrem rigorosen Programm will sich die bayrische Staatsregierung im Kampf gegen die Seuche an die Spitze stellen. Bewerber für den öffentlichen Dienst und Strafgefangene sollen zwangsuntersucht werden, Ausländer mit Test-Ergebnis HIV-positiv keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Jeder ‚Ansteckungsverdächtige‘, das kann einer mit 14 und einer mit 84 sein, soll nach Ermittlungen durch die Polizei oder aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung zwangsvorgeführt werden können. Staatssekretär Peter Gauweiler, im Strauß-Kabinett eine Art Hoher Kommissar für Hygiene und Hysterie: ‚Wir lassen niemand ungeschoren.‘" („Entartung ausdünnen“, Der Spiegel vom 16.3.1987; Hervorhebungen hinzugefügt)

Rechtsgrundlagen des Infektionsschutzes

Die Allgemeinverfügungen und Rechtsverordnungen, die in allen Bundesländern in der vergangenen Woche erlassen und zum Teil bereits mehrfach verschärft worden sind, stützen sich durchweg auf § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG):

Satz 1: „Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist."

Satz 2: "Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen; sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind.“

(Hervorhebungen hinzugefügt)

Zunächst Satz 2, der folgende Maßnahmen erlaubt:

  • Verbote und Beschränkungen von Veranstaltungen oder sonstigen Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen;
  • Schließung von Badeanstalten, Kindertagesstätten, Kinderhorten, Schulen und sonstigen Ausbildungseirichtungen, Heimen und Ferienlagern (§ 33 IfSG);
  • Verpflichtungen von Personen, ihren Aufenthaltsort nicht zu verlassen oder bestimmte Orte nicht zu betreten, bis notwendige Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind.

=> Nicht von Satz 2 gedeckt ist somit die Schließung von Kultureinrichtungen, Gaststätten und Ladenlokalen. Grundsätzlich zulässig sind dagegen Ausgehverbote.

Satz 1 erlaubt folgende Maßnahmen:

  • Duldung von Untersuchungen und anderen Beobachtungsmaßnahmen (§ 29 IfSG);
  • Quarantäne (§ 30 IfSG);
  • Tätigkeitsverbote (§ 31 IfSG);
  • sonstige „notwendige Schutzmaßnahmen“.

Sind Kneipenschließungen „Tätigkeitsverbote“?

Behördlicher Ansatz: Soweit es um die Schließung von Kultureinrichtungen, Gaststätten, Ladenlokalen und anderen Einrichtungen geht, die nicht von Satz 2 des § 28 Abs. 1 IfSG erfasst sind, geht beispielsweise der Berliner Senat davon aus, dass es sich um Tätigkeitsverbote nach § 31 IfSG handelt:

„Die zuständige Behörde kann Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern die Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten ganz oder teilweise untersagen. Satz 1 gilt auch für sonstige Personen, die Krankheitserreger so in oder an sich tragen, dass im Einzelfall die Gefahr einer Weiterverbreitung besteht.“ (Hervorhebungen hinzugefügt)

Auslegung: Sowohl der Wortlaut der Norm als auch die typischen Anwendungsfälle der Norm sprechen eindeutig dagegen, dass sich aus § 31 IfSG eine behördliche Befugnis zu Kneipenschließungen ergibt. Tätigkeitsverbote nach § 31 IfSG richten sich gegen Personen und nicht gegen Einrichtungen. Selbst wenn man § 31 IfSG auf Einrichtungen anwenden könnte, müsste es in der konkreten Einrichtung Ansteckungsverdächtige oder Krankheitserreger geben. Dies wird man nicht in jeder Kneipe einfach einmal so unterstellen können, ohne rechtsstaatliche Grundsätze zu missachten.

=> Die typischen Anwendungsfälle des § 31 IfSG sind Infektionsbefunde bei medizinischem Personal, denen man daraufhin die Tätigkeit untersagt. Dies ist mit der Schließung von Gaststätten, Kultureinrichtungen und Ladenlokalen nicht vergleichbar.

Schließungen als „notwendige Maßnahmen“?

Für die Schließung von Gaststätten, Kultureinrichtungen und Ladenlokalen bleibt damit nur die Möglichkeit, diese Maßnahmen als sonstige „notwendige Maßnahmen“ nach Satz 1 des § 28 Abs. 1 IfSG zu verstehen. Die Befugnis zur Anordnung „notwendiger Maßnahmen“ ist indes kein Freifahrtschein für die Exekutive. Dies war zur Zeit der AIDS-Krise nicht anders, obwohl AIDS damals noch für alle Infizierten als unheilbar, qualvoll und tödlich galt:

„Die Verhütung und Bekämpfung von Seuchen muss schließlich ‚verhältnismäßig (i. e. S.)‘ sein. Die Konsequenz dieses Verfassungsgrundsatzes mag möglicherweise gerade im Seuchen(Polizei)recht erstaunlich sein; denn dieser Grundsatz verbietet u. U. eine ‚geeignete‘ und ‚erforderliche‘ Maßnahme, wenn nach Abwägung der damit verbundenen Vor- und Nachteile letztere insgesamt als unzumutbar bewertet werden müssen; das kann im Ergebnis dazu führen, dass der Verwaltung ein gleichsam 100%iges Durchgreifen - auch im Bereich der Gefahrenabwehr - nicht möglich ist. Für alle Bereiche des öffentlichen Rechts wird dieses Ergebnis sicherlich als einzig richtige Konsequenz empfunden werden - im Übrigen auch hinsichtlich des Schutzes von Leben und Gesundheit der Bürger durch staatliche Maßnahmen. Der Versuch, beispielsweise Verstöße gegen das Straßenverkehrsrecht oder Straftaten gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit gänzlich zu verhindern oder lückenlos zu ahnden, führt - von einem gewissen Perfektionsgrad an - zwangsläufig zur Kollision mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, obwohl der Staat bei der Betrachtung des Einzelfalles anscheinend rechtmäßig handelt. Der Gedanke liegt nahe, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit u. a. auch ein Verbot der Maximierung bei der Durchsetzung von Staatszielen enthält.“ (Sewald, NJW 1987, 2265 (2272); Hervorhebungen hinzugefügt)

28 Abs. 1 Satz 1 IfSG könnte sich als "zu dünnes Eis" erweisen, denn der Begriff der „notwendigen Maßnahmen“ ist ein Paradebeispiel für eine unbestimmte Norm, die für tiefgreifende Grundrechtseingriffe wenig taugen dürfte:

„Zur Bestimmung der Regelungsdichte bedient man sich einer proportionalen Betrachtung: „Je nachhaltiger die Grundrechte des einzelnen Bürgers betroffen oder bedroht sind, je gewichtiger die Auswirkungen für die Allgemeinheit sind und je umstrittener ein Fragenkomplex in der Öffentlichkeit ist, desto präziser und enger muss die gesetzliche Regelung sein‘ (Maurer)“. (Voßkuhle, JuS 2007, 118 (119); Hervorhebungen hinzugefügt)

Jahrelange Arbeit für die Gerichte

Es ist jetzt nicht die Stunde des Schlaumeierns. Daher soll ein abschließendes Urteil über die Verhältnismäßigkeit der Schließungen, Verbote und Ausgangsbeschränkungen auch zunächst offenbleiben. Die getroffenen Maßnahmen werden jedenfalls in den kommenden Jahren mit Sicherheit die Gerichte viel beschäftigen. Dann könnte es unter anderem um diese Fragen gehen:

  • Effektivität:  Kann man Ausgangsbeschränkungen als „erforderlich“ ansehen, solange noch offen ist, ob nicht bereits die bisherigen Maßnahmen zu einem „Flatten the Curve“ folgen?
  • Expertise:  Kann man Ausgangsbeschränkungen für „erforderlich“ halten, obwohl es viele skeptische bis zurückhaltende Stimmen bei den medizinischen Experten gibt?
  • Gleichbehandlung:  Kann man die Schließung von Friseurläden und Maßnahmen gegen andere Dienstleister für „erforderlich“ halten, zugleich aber sämtliche Produktionsbetriebe von Maßnahmen verschonen?
  • Intention:  Kann man Maßnahmen schon deshalb für „verhältnismäßig“ halten, weil man auf ein „Flatten the Curve“ setzt? Oder müsste man nicht zugleich ein Ziel definieren (z. B. eine bestimmte, verminderte Zahl der Neuinfektionen, die man erreichen möchte)?
  • Ziel:  Müsste man nicht klar unterscheiden, ob man Neuinfektionen verhindern oder verlangsamen möchte? An welchem Ziel, an welchen Zahlen soll man ansonsten die „Verhältnismäßigkeit“ messen?

Fazit

Die Maßnahmen, die in der Corona-Krise getroffen werden, sind nicht alternativlos. Nicht Corona schließt die Ladentüren und Veranstaltungssäle, die Schließungen werden behördlich angeordnet. Wir hoffen alle, dass die Maßnahmen erfolgreich sind. Und wir halten uns alle an die Regeln des „Social Distancing“. Aber wir vergessen die Bedrohung mühsam aufgebauter wirtschaftlicher Existenzen und die tiefen Einschnitte in Bürgerrechte nicht. Das letzte Wort über die Sinnhaftigkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ist noch lange nicht gesprochen.

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