25.05.2020

Die Begutachtungsleitsätze des Fachbereichs Elektrotechnik und Informationstechnik im Bundesverband der Sachverständigen

Portrait von Oliver Stiemerling
Oliver Stiemerling Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Systeme und Anwendungen der Informationsverarbeitung

Eine große Herausforderung des IT-Rechts ist, dass die meisten Gerichtsverfahren verglichen werden, so dass es nur wenige aktuelle Entscheidungen und Leitsätze zu den wichtigen Themen im Feld der Informationsverarbeitung gibt. Dadurch fehlen klare und verlässliche Regeln, die nicht nur in Streitfällen zu einer schnelleren Herstellung des Rechtsfriedens führen, sondern auch grundsätzlich das Verhalten der Marktteilnehmer positiv und streitvermeidend steuern könnten.

Viele Vergleiche werden erst nach der Klärung des technischen Streitstoffs durch ein Gerichtsgutachten getroffen. Deshalb haben die für Gerichtsverfahren bevorzugt eingesetzten öffentlich bestellten und vereidigten IT-Sachverständigen einen guten Einblick in die zentralen technischen Fragestellungen solcher Streitfälle.

Die über 60 Mitglieder des Bundesfachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik im Bundesverband der öffentlich bestellten und vereidigten sowie qualifizierten Sachverständigen e.V. erarbeiten vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen bereits seit längerem Begutachtungsleitsätze, die im Kreis der Gutachter allgemein anerkannte Regeln und Vorgehensweisen zur Bewertung von häufig strittigen technischen Fragestellungen darstellen.

Die ersten drei dieser Begutachtungsleitsätze im Bereich der Informationstechnik zu den Themen „Standardsoftware“, „Software-Dokumentation“ und „Computerprogramm“ (im Sinne des §69a UrhG) wurden nun mit dem Ziel veröffentlicht, den Markteilnehmern und insbesondere auch ihren anwaltlichen Vertretern ein „Preview“ dafür zu schaffen, wie bestimmte Fragestellung von einem gerichtlichen Gutachter wahrscheinlich bewertet werden.

Ausgangspunkt: Typische Fragestellungen & Herausforderungen

In Streitfällen im Bereich der Informationsverarbeitung gibt es eine Reihe von methodisch und inhaltlich anspruchsvollen Fragestellungen an der Schnittstelle von Informatik und Recht, die immer wieder als Aufgabenstellung von Gerichtsgutachten in Beweisbeschlüssen oder Begutachtungsaufträgen der Parteien erscheinen.

Anpassung und Einführung einer Standardsoftware: Beispielsweise geht es oft um behauptete Fehler bei der Anpassung und Einführung einer Standardsoftware, die sich aus der Art und Weise ergeben, in der die kundenindividuellen Anforderungen auf Basis der Standardsoftware abgebildet wurden oder eben auch nicht. Hier muss auf technischer Ebene genau zwischen dem jeweiligen Standardprodukt und den kundenindividuellen Änderungen unterschieden werden, um die Qualität (oder Fehlerhaftigkeit) des resultierenden Gesamtsystems beurteilen zu können, insbesondere in Bezug auf so schwierig greifbare Eigenschaften wie die „Zukunftsfähigkeit“ oder "Wartbarkeit" des Systems.

Dokumentation zu einer Software: Ein weiterer häufiger Streitpunkt ist die gelieferte (oder nicht gelieferte) Dokumentation zu einer Software. Hier wird beispielsweise mit Verweis auf ältere BGH-Urteile zu diesem Thema in vielen Fällen pauschal behauptet, eine Software wäre ohne Benutzerhandbuch überhaupt nicht verwendbar – was heute aus technischer Sicht nicht (mehr) zwangsläufig so ist. Bei der Begutachtung stellen sich in solchen Verfahren erhebliche methodische Herausforderungen, da ein Sachverständiger nicht einfach sein eigenes Verständnis als Maßstab nehmen darf, sondern die Frage - im Fall der Benutzerdokumentation - aus Sicht eines typischen Nutzers der Software beantworten muss.

Urheberrechtlich geschütztes Computerprogramm: In Verfahren mit Bezug zum Urheberrecht werden Gerichtssachverständige in vielen Fällen mit der Frage konfrontiert, ob eine bestimmte Software tatsächlich ein (geschütztes) Computerprogramm im Sinne des §69a UrhG ist oder nicht. Diese Frage ist für Informatiker überraschenderweise nicht so leicht zu beantworten, da das Feld so schnell voranschreitet, dass es keine stabile und trennscharfe technische Definition für ein Computerprogramm in Abgrenzung zu den von diesem verarbeiteten Daten gibt.

Methodik in IT-Projekten: Im Bereich strittiger IT-Projekte stellt sich immer wieder die Frage, wie sich Auftragnehmer und Auftraggeber in einem Projekt nach „agiler Vorgehensweise“ üblicherweise verhalten bzw. verhalten sollten und welche Art von Ergebnis vom Kunden erwartet werden kann. Auch im Bereich der Projektmethodiken gibt es eine große Dynamik, so dass ein Sachverständiger heutige Projekte nicht mit "klassischen" Maßstäben älterer Vorgehensweisen messen darf.

Technische und organisatorische Maßnahmen: In Streitfällen zur IT-Sicherheit und stark zunehmend auch zum Datenschutz muss die „Angemessenheit“ von technischen und organisatorischen Maßnahmen bewertet werden, wobei die DSGVO hier aus gutem Grund wenig konkrete Maßstäbe vorgibt, um nicht hinter den Stand der Technik zurückzufallen.

Kernproblem

Das Kernproblem all dieser Fragestellungen ist, dass es zum einen auf der rechtlichen Seite aus dem vorstehend genannten Grund der überwiegend verglichenen Verfahren (und des technischen Fortschritts) kaum aktuelle Urteile und Leitsätze existieren, die Klarheit schaffen würden.  Zum anderen gibt es auch in der Informatik zu diesen Fragestellungen an der Schnittstelle zum Recht nur wenige konkrete Vorgaben, da die Informatik interdisziplinäre Herausforderungen aufgrund der zumeist streng nach Fakultäten getrennten Hochschulforschung nicht mit der gleichen Energie untersucht, wie die rein technischen Fragestellungen. Insbesondere geht es in der Informatikausbildung zumeist um das technisch Mögliche, aber nicht um verbindliche Mindeststandards.

Lösungsansatz: Die Begutachtungsleitsätze können auf Grund der Art ihrer Erstellung und Abstimmung unter dem Dach des größten deutschen Verbandes öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger ein tragfähiger und substantieller Ansatz sein, diese „Lücke“ für bestimmte Themen zu schließen und allen Beteiligten (Sachverständigen, Anwälten, Gerichten und insbesondere auch den Parteien und Marktteilnehmern) grundsätzliche Richtlinien und Bewertungsmaßstäbe an die Hand zu geben. Solche Leitsätze können naturgemäß nicht jeden Einzelfall abdecken oder jede Detailfrage beantworten, erheben aber den Anspruch genau die Aspekte einer Thematik zu behandeln, zu denen es einen breiten oder sogar vollständigen Konsens bei den beteiligten Sachverständigen gibt.

Vorgehensweise

Beteiligte: Der Bundesfachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik im B.V.S. e.V. hat über 60 öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige als Mitglieder, von denen viele bereits in mehreren hundert Fällen Gutachten erstattet haben und zudem häufig auch selbst aktiv als Informatiker oder Ingenieure in Projekten und Planungsvorhaben arbeiten.

Iterationen & Vortrag: Auf Basis dieser Erfahrungen wird ein neuer Begutachtungsleitsatz in einem Arbeitskreis von mit der jeweiligen Thematik besonders vertrauten Sachverständigen erarbeitet. Dabei geht ein Leitsatz oft durch 10-20 Versionen, bevor er anschließend – und das ist zwingend – in einem Vortrag auf einer der beiden jährlichen Tagung den Mitgliedern des Fachbereichs vor- und zur Diskussion gestellt wird.

Abstimmung v. "Version 1.0": Nach dem Vortrag wird eine ggf. verbesserte Version des Leitsatzes zusammen mit einem Review-Blatt an alle Mitglieder geschickt und die zurücklaufenden Anmerkungen und Kritikpunkte vom Arbeitskreis entweder berücksichtigt oder schriftlich begründet zurückgewiesen. Insbesondere in dieser Phase kann es dazu kommen, dass Aussagen, die keinen breiten Konsens bei den Mitgliedern haben, aus dem Leitsatz entfernt oder entsprechend angepasst werden. Danach wird der Leitsatz ein zweites Mal allen Mitgliedern zur Kontrolle vorgelegt. Zudem wird der Leitsatz in dieser Phase auch dem juristischen Beirat der Fachgruppe zur Prüfung der Relevanz und Verständlichkeit für die Zielgruppe der Juristen zur Verfügung gestellt. Falls sich in dieser Phase keine grundlegenden, über Einzelmeinungen hinausgehenden inhaltlichen Kritikpunkte mehr ergeben, wird der Leitsatz in Version 1.0 finalisiert.

Fachlicher Gehalt: Da im Bereich der Informationstechnologie von den aktuell 96 bei den IHK bundesweit geführten Sachverständigen über ein Drittel auch Mitglieder des Bundesfachbereichs Elektrotechnik und Informationstechnik im Bundesverband der öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen sind, gewährt dieses Verfahren, dass ein Leitsatz mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Fachmeinung einer überwiegenden Mehrheit aller möglichen Sachverständigen wiedergibt. Naturgemäß ist kein Sachverständiger (auch nicht als Mitglied des Bundesverbandes) an die Inhalte eines Leitsatzes gebunden – allerdings müsste eine abweichende Einzelmeinung schon sehr überzeugend begründet sein, um vor Gericht Bestand zu haben.

Lebendiges Dokument: Zudem werden Leitsätze laufend überprüft und nach Anmerkungen von Sachverständigen und Praktikern auch von außerhalb des Bundesfachbereichs aktualisiert. Falls sich beispielsweise herausstellt, dass eine bestimmte Fallkonstellation im Leitsatz nicht berücksichtigt wurde, wird diese vom zuständigen Arbeitskreis in einer neuen Version ergänzt. Versionen mit wesentlichen inhaltlichen Änderungen werden wiederum allen Mitgliedern des Bundesfachbereichs zur Kontrolle vorgelegt.

Bisher erarbeitete und abgestimmte Leitsätze

Im oben beschriebenen Verfahren wurden bisher drei Begutachtungsleitsätze erarbeitet, die sich mit einem Teil der oben beschriebenen, herausfordernden Fragestellungen in Streitfällen beschäftigen:

  • Begutachtungsleitsatz „Standardsoftware“: Dieser Leitsatz formuliert die üblichen und berechtigten Erwartungen von Kunden an Standardsoftware und beschreibt typische Fallgruppen, in denen die Standardsoftware-Eigenschaft verletzt wird. Dieser Leitsatz findet seine Anwendungen insbesondere bei den häufigen Streitfällen, in denen es um die gescheiterte Anpassung und Einführung einer Standardsoftware geht.
  • Begutachtungsleitsatz „Software-Dokumentation“: Vor dem Hintergrund der alten Gerichtsentscheidungen zu diesem Thema beschreibt dieser Leitsatz typische Dokumentationsdefizite und die sachgerechte Begutachtung von entsprechenden Fehlerbehauptungen. Eine Kernaussage ist, dass es entgegen der alten gerichtlichen Leitsätze heute durchaus Software gibt, die auch ohne gesondertes Benutzerhandbuch bestimmungsgemäß verwendbar ist.
  • Begutachtungsleitsatz „Computerprogramm“: Diese Begutachtungsleitsatz entwickelt auf Basis der aus der Informatik bekannten Zustandsautomaten einen Ansatz, um bezüglich eines vermeintlichen Computerprogramms zu bewerten, ob dieses ein informationsverarbeitendes System oder einen Teil eines solchen beschreibt und ob die Sprache, in der es formuliert ist, dem Entwickler die für eine eigene geistige Schöpfung im Sinne des §69a UrhG notwendigen Freiheitsgrade gewährt.

Alle bisher veröffentlichten Leitsätze und weitere Publikationen des Bundesfachbereichs sind im Online-Download-Shop des Wißner-Verlags in Augsburg erhältlich.

Ausblick & Bitte

Der Fachbereich arbeitet bereits an weiteren Leitsätzen zu (agilen) IT-Projekten, zur Bewertung von technischen und organisatorischen Maßnahmen im Datenschutz und anderen relevanten Themen.

Die beteiligten Sachverständigen sind immer an Ideen für neue Leitsätze interessiert, insbesondere auch aus der Gemeinschaft der auf Informationstechnologie spezialisierten Juristinnen und Juristen. Falls Sie also ein Thema als Anregung haben, wenden Sie sich gerne direkt an mich als Leiter des Bundesfachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik unter: os@ecambria-experts.com.

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