EGMR: Schadensersatz vom Portalbetreiber für User Generated Content
Glaubt man der Presse und den selbst ernannten Experten im Web 2.0, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit seinem Urteil vom 16.6.2015 (Aktenzeichen: 64569/09) in Delfi AS v. Estonia das Ende des Web 2.0 eingeläutet. Mit der Bestätigung der Verurteilung eines Portalbetreibers zur Zahlung von Schadensersatz für Rechtsverletzungen in fremden Nutzerkommentaren stehe zu befürchten, das aus Angst vor Repressionen zukünftig User Generated Content erheblich beschränkt, moderiert oder sonst zwecks Haftungsvermeidung reglementiert werde.
Wirklich gelesen haben die Entscheidung aber nur einige wenige:
Schadensersatzpflicht
Richtig ist, dass der EGMR die Verurteilung eines Portalbetreibers zur Zahlung von Schadensersatz an einen Betroffenen wegen schwerer Persönlichkeitsverletzungen durch User Generated Content (UGC) bestätigt hat, weil hierin kein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit respektive Informationsfreiheit liege.
Tatbestandsvoraussetzungen
Bedingung für die Schadensersatzverpflichtung ist nach dem EGMR allerdings die Erfüllung von 4 Tatbestandsvoraussetzungen, nämlich dass:
(a) ein kommerziell betriebenes Portal mit eigenem, den UGC auslösendem redaktionellen Inhalt betroffen ist,
(b) im UGC schwerwiegende Rechtsverletzungen vorliegen,
(c) der Portalbetreiber die Rechtsverletzungen nicht unverzüglich nach Kenntniserlangung beseitigt hat und
(d) die Höhe des Schadensersatzes (konkret rund 320,- EUR) nicht geeignet ist, die meinungsbildende Tätigkeit des Portalbetreibers zu beeinträchtigen.
Pendant in TMG und E-Commerce-Richtlinie
Das alles ist nicht neu, sondern gilt auch unter dem TMG und der E-Commerce-Richtlinie. Auch dort haftet nicht nur auf Beseitigung und Unterlassung, sondern auch auf Schadensersatz und ggf. strafrechtlich, wer Rechtsverletzungen nach Kenntniserlangung als Host-Provider nicht unverzüglich beseitigt.
Nicht-kommerzielle Portale
Der EGMR hat sogar ausdrücklich nicht-kommerzielle Portale (z.B. Boards, Foren) und Social Media ohne eigenen redaktionellen Content ausgeklammert.
Einziger Unglücklicher Ansatz des EGMR
Nur in einem Punkt ist die Entscheidung bedenklich und gefährlich, nämlich dort, wo der EGMR darüber nachdenkt, den Portalbetreiber als Veranlasser rechtswidrigen UGC wegen der zu erwartenden Reaktionen von Nutzern auf eigene Inhalte des Portalbetreibers kenntnisunabhängig auf Schadensersatz haften zu lassen.
Damit würden - so wie es das Hanseatische Oberlandesgericht im Heise-Urteil vom 22.8.2006 (OLG Hamburg, Urt. v. 22.8.2016 - 7 U 50/06, CR 2007, 44) getan hat - Grenzen überschritten, ohne dass freilich seit einigen Jahren ein konkreter Fall ersichtlich ist, für den dies relevant sein könnte.
Zusammengefasst:
Viel Lärm um nicht nichts, aber um sehr wenig.