29.04.2024

Ist das Gesetz gegen digitale Gewalt noch zu retten?

Portrait von Dr. Daniel Holznagel
Dr. Daniel Holznagel RiKG

Bekanntlich hat sich die Bundesregierung die Schaffung eines Gesetzes gegen digitale Gewalt vorgenommen (Koalitionsvertrag S. 14). Im April 2023 legte das BMJ hierzu ein sechsseitiges Eckpunktepapier vor (vgl. mein Blogbeitrag hier). In der Folge sind - überwiegend wohlwollende - Stellungnahmen eingegangen (abrufbar hier).

Sodann wurde für Herbst 2023 ein Referentenentwurf erwartet. Dieser blieb aber aus (vgl. hierzu auch Anne Roth auf Netzpolitik vom 27.04.2024), und das obgleich das Vorhaben jedenfalls politisch weiterhin Rückendeckung aller Regierungsfraktionen und auch der Länder haben dürfte (vgl. JuMiKo-Beschluss vom 10.11.2023 Top I.3.). Nunmehr heißt es gerüchteweise, dass zunächst noch einmal ein Stakeholder-Dialog geplant sei. Dies wiederum macht einen Referentenentwurf vor Herbst 2024 unwahrscheinlich.

Letztlich hakt es, weil jüngere Entscheidungen des EuGH als auch des BGH dem Vorhaben Grenzen aufzeigen. Allerdings verbleiben (z.T. alternative) Handlungsoptionen:

I. Account-Sperren

Eine Säule des Vorhabens ist die Schaffung gerichtlich angeordneter Account-Sperren. Auf Antrag Betroffener digitaler Gewalt sollen Gerichte in einem FamFG-Verfahren u.a. Account-Sperren anordnen können. Die Plattformen würden unabhängig von der Frage einer eigenen Haftung verpflichtet; nach der Logik des Verfahrens (Richtervorbehalt) müssten die Plattformen von den Verfahrenskosten befreit bleiben (vgl. schon die Analyse hier; letztlich analog zur Ratio hinter § 21 Abs. 3 Satz 7 TTDSG, vgl. BT-Drs. 19/18792 S. 55).

1. Kein Gerichtsstand für FamFG-Verfahren in Deutschland

Allerdings drohen diese Account-Sperren ins Leere zu laufen, weil die deutschen Gerichte (für die meist im Ausland sitzenden Anbieter) gar nicht zuständig wären. Denn da die Account-Sperren die Plattformen gerade als Nichtverletzer verpflichten, dürfte Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO (unerlaubte Handlung) keinen (internationalen) Gerichtsstand begründen. Die entsprechende Begründung des BGH im Beschl. v. 28.9.2023  - III ZB 25/21, CR 2024, 115 zum Gestattungsverfahren nach § 14 Abs. 3 - 5 TMG a.F. (bzw. jetzt § 21 Abs. 2 - 4 TTDSG) ist insofern übertragbar. Der Gerichtsstand des vertraglichen Erfüllungsorts für Dienstleistungen nach Art. 7 Nr. 1 lit. b) Brüssel-Ia-VO hilft nicht weiter, da es mit den angedachten Account-Sperren nicht um vertragliche Pflichten gehen wird (weswegen Art. 18 Brüssel-Ia-VO auch nicht beschränkt für Verbraucher weiterhelfen würde).

Im Ergebnis scheint das Vorhaben zu den Account-Sperren damit nicht sinnvoll umsetzbar. Dies ist im Grunde aber zu begrüßen:

2. Gerichtsstand für DSA-Ansprüche

Denn der DSA eröffnet mit Art. 23, 54 bereits zivilrechtlich einklagbare Account-Sperren (wenn - wie vertreten wird - Art. 54 DSA als Rechtsfolge Naturalrestitution in Form der Vornahme der unterlassenen Sorgfaltspflicht hergibt, vgl. zu all dem D. Holznagel, MMR 2023, 643). Bei den (wohl) einklagbaren Ansprüchen nach Art. 23, 54 DSA wäre zudem wohl sogar der inländische Gerichtsstand nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO eröffnet, denn verfolgt würde eine zivilrechtliche (Schadens-) Haftung, die auch nicht an einen Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag anknüpfen (vgl. EuGH, Urt. v. 9.12.2021 – C-242/20, Rn. 42, juris). Zwar berechtigt Art. 54 DSA gerade nur “Nutzer” iSv Art. 3 lit. b) DSA, was aber wiederum nicht zwingend an ein Vertragsverhältnis mit der Plattform anknüpft. Bei Verzicht auf eine “deutsche” Regelung zu Account-Sperren würde zugleich der sonst drohende Konflikt mit dem grundsätzlich vollharmonisierenden DSA vermieden.

3. Behördliche Anordnung

Selbst wenn man all dem (DSA eröffnet Zivilklage) nicht folgt, braucht es den deutschen Alleingang deshalb nicht, weil dem Betroffenen noch die Beschwerde bei der zuständigen deutschen DSA-Aufsicht (Koordinierungsstelle für digitale Dienste bei der BNetzA) zusteht. Von dort wird die Beschwerde an die Behörde des Niederlassungsortes weiterleitet, wo wiederum dann eine Account-Sperre behördlich angeordnet werden könnte (Art. 23, 53, 51 Abs. 2 lit. b) DSA).

4. Vertragliche Durchsetzung

Und schließlich bleibt noch die Möglichkeit der Durchsetzung ggfs. bestehender vertraglicher Pflichten zur Durchsetzung von (in den AGB “zugesagten”) Account-Sperren  (vgl. D. Holznagel, CR 2023, 539). Verbraucher könnten entsprechende Klagen sogar in Deutschland erheben  (Art. 18 Brüssel-Ia-VO; Nicht-Verbrauchern dürfte hingegen Art. 7 Nr. 1 Brüssel-Ia-VO nicht weiterhelfen, vgl. BGH, Beschl. v. 28.09.2023  - III ZB 25/21, Rn. 25).

II. Der Zustellungsbevollmächtigte

Ein weiterer Eckpunkt des geplanten Gesetzes gegen Digitale Gewalt: Eine Pflicht zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten (jetzt § 5 Abs. 1 NetzDG). Insofern kam dem Gesetzgeber aber der EuGH dazwischen, der mit dem Urteil vom 9.11.2023, C-376/22 (CR 2023, 800 - KommAustria) zum österreichischen NetzDG-Pendant klärte, dass abstrakt-generelle Vorgaben nicht unter die Ausnahme vom Herkunftslandprinzip fallen. D.h. Deutschland kann Anbieter mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten nicht abstrakt-generell zur Benennung von Zustellungsbevollmächtigten zwingen.

1. Ansatz im DDG

Vor diesem Hintergrund wurde mit dem Digitale-Dienste-Gesetz (DDG) eine ad-hoc-Reparatur durchgeführt: Zwar bleibt § 5 Abs. 1 NetzDG (anders als der Rest des NetzDG) erhalten, allerdings beschränkt auf Nicht-EU-Anbieter und zivilrechtliche Verfahren.

Die Bundesregierung prüft nun offenbar, inwiefern der Zustellungsbevollmächtigte für besondere Konstellationen (Nicht-EU-Anbieter, Pflicht erst nach Einzelfallanordnung) beibehalten oder ggfs. sogar (wieder) ausgeweitet werden kann (Hintergrund: Prüfbitte des Bundestages gemäß Ziff. II. 2. der angenommenen Beschlussempfehlung zum DDG; Prüfbitte der Länder in der BRat-Stellungnahme zum DDG-E, BT-Drs. 20/10281, Ziff. 10 sowie im JuMiKo-Beschluss vom 10.11.2023 Top I.3.).

2. Harmonisierung durch DSA

Allerdings erscheint es naheliegender, dass Deutschland wegen der Harmonisierungswirkung des DSA auch bloß für Nicht-EU-Anbieter eine abstrakt-generelle Pflicht nicht einführen kann (so auch Härting/Adamek, CR 2023, 316 Rz. 22 ff.). Denn der DSA legt harmonisierte Vorschriften fest (Art. 1 Abs. 2), gilt auch für Nicht-EU-Anbieter (Art. 2 Abs. 1), und enthält bereits ein Regelungsregime zur verpflichtenden Benennung von Kontaktstellen: Art. 11 (Kontaktstellen für Behörden), Art. 12 (Kontaktstellen für Nutzer) und v.a. Art. 13 (Gesetzlicher Vertreter für Nicht-EU-Anbieter).

Wollte man hierin keine (gegenüber nationalen Zustellungsbevollmächtigten) abschließende Regelung des DSA sehen, müsste man argumentieren können, dass die nationale Regelung einem anderen berechtigten öffentlichen Interesse dient (vgl. ErwGr 9 Satz 3 DSA). Hierzu müsste man wohl vertreten, dass der Vertreter nach Art. 13 DSA gar nicht zwingend für Zustellungen in zivilrechtlichen Verfahren zu bevollmächtigen ist (so Barudi, in: Müller-Terpitz/Köhler, DSA, Art. 13 Rn. 14 und implizit wohl auch die Bundesregierung zu den Änderungen an § 5 NetzDG im Zuge des DDG-E, vgl. BT-Drs. 20/10031 S. 97: “Die Anwendbarkeit auf aufsichtsrechtliche Verfahren und Bußgeldverfahren entfällt, da in Artikel 13 DSA diesbezüglich ein ausreichendes Instrumentarium zur Verfügung steht”;  aA wohl Raue, in: Hofmann/Raue, DSA, Art. 13 Rn. 21). Zudem müsste man argumentieren, dass der DSA insofern auch trotz Zusammenschau von Art. 11 - 13 DSA keine abschließende Regelung getroffen hat. Letzteres erscheint allenfalls mit Mühen gerade noch vertretbar, wenn man herausstellt, dass es mit Art. 13 DSA nicht nur um Zustellungen, sondern auch und ggfs. sogar vorrangig um die Benennung eines (greifbaren) Haftungssubjekts geht (vgl. Art. 13 Abs. 3 DSA).

Die vom Bundesrat aufgeworfene Idee einzelfallbezogener Verpflichtung zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten (BT-Drs. 20/10281, Ziff. 10) erscheint fraglich. Eine Ad-hoc-Benennung dürfte länger dauern als die internationale Zustellung innerhalb eines ordentlichen Gerichtsverfahrens (inkl. der dortigen Option nach § 184 ZPO). Eine vom konkreten Zivilverfahren gelöste Verpflichtung auf Vorrat könnte, da sie sich wiederum von einem Zivilverfahren im Einzelfall lösen würde, wiederum im Konflikt mit dem DSA stehen.

In jedem Fall erscheint klar, dass der eventuell noch für Nicht-EU-Anbieter “zu rettende” Zustellungsbevollmächtigte nur eingeschränkte Wirkung hätte. Denn die großen Plattformen sitzen überwiegend - jedenfalls formal, d.h. auch zu Zwecken der Zustellung - in der EU.

III. Auskunftsverfahren

Hoffnung macht allerdings - trotz Problemen - die dritte Säule des geplanten Gesetzes gegen Digitale Gewalt: Die Fortentwicklung des Auskunftsverfahrens. Hier plant die Bundesregierung bekanntlich eine Erstreckung des Verfahrens gem. § 21 TTDSG auf Nutzungsdaten, Sicherungsanordnungen und - bei offensichtlichen Rechtsverletzungen - Auskunftsanordnungen im Eilrechtsschutz. Zudem plant die Bundesregierung die Einbindung von TK-Unternehmen. Allesamt gute Vorschläge. Nachdenken sollte der Gesetzgeber m.E. noch darüber, eine Aktualisierungspflicht einzuführen (sobald sich der Account-Inhaber erneut einloggt, übermittelt der Anbieter die “frischesten” Daten an das Gericht, so auch HateAid u.a. hier S. 4).

Grundsätzlich stellt sich zwar auch bei den gerichtlichen Auskunftsanordnungen das Problem der nur begrenzten internationalen Zuständigkeit - jedoch weniger gravierend als bei den Account-Sperren (s.o.) und als in dem der o.g. BGH-Entscheidung (Beschl. v. 28.9.2023  - III ZB 25/21, CR 2024, 115) zugrunde liegenden Fall. Denn in dem Verfahren vor dem BGH ging es allein um die isolierte Gestattung der Datenauskunft (was nach § 14 Abs. 3 TMG a.F. nicht anders möglich war). Nach der NetzDG-Novelle 2021 ist das Gestattungsverfahren aber per default mit der Anordnung der Verpflichtung zur Auskunft gekoppelt (§ 21 Abs. 3 Satz 2 TTDSG), d.h. künftig wird im Zweifel Verfahrensgegenstand auch die Pflicht zur Auskunft. Diese Pflicht wird sich weiterhin v.a. aus einer deliktischen Sonderbeziehung ergeben (v.a. Störerhaftung der Plattform, vgl. BGH, Urteil v. 1.7.2014 – VI ZR 345/13 „Ärztebewertung I“, Rn. 6) und/oder aus einer vertraglichen Nebenpflicht. Jedenfalls gegenüber Plattformen, welche ihre nach einem Hinweis ausgelösten Prüf- bzw. Verkehrspflichten nicht nachkommen (z.B. nicht oder zu langsam löschen), dürfte damit, da sie dann jedenfalls auf Unterlassen haften, ein Gerichtsstand in Deutschland nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO begründet sein. Und Verbraucher-Nutzern würde (bei Annahme einer nebenvertraglichen Auskunftspflicht) zudem Art. 18 Brüssel-Ia-VO helfen.

In den übrigen Fällen (Plattform ist Nichtverletzer, keine Vertragsbeziehung eines Verbrauchers) verbleibt ein Problem, da es in diesen Fällen an einer (zugleich die Zuständigkeit begründenden) Auskunftspflicht fehlt. Mangels Auskunftspflicht wäre aber auch bisher schon ein zivilrechtliches Auskunftsverfahren (so der Anbieter die Daten nach Gestattung nicht freiwillig herausgibt) letztlich erfolglos verlaufen (sowohl NetzDG als auch TTDSG haben keine weitergehende Verpflichtung zur Auskunft eingeführt, sondern auf den bestehenden Auskunftsansprüchen aufgebaut, vgl. BT-Drs. 19/18792 S. 55). In den verbleibenden Fällen (Plattform ist Nichtverletzer, keine Vertragsbeziehung eines Verbrauchers) blieb und bleibt immerhin der Umweg über ein (eventuell eingeleitetes) Strafverfahren (strafprozessuale Auskunft der Plattform und nachfolgende Akteneinsicht).

IV. Ergebnis

Der Gesetzgeber sollte vom Vorhaben der Account-Sperren Abstand nehmen. Auch beim Zustellungsbevollmächtigten sollte wohl keine weitere Regelung verfolgt werden. Denn mit Schaffung des DDG ist der Zustellungsbevollmächtigte in § 5 Abs. 1 NetzDG für Nicht-EU-Anbieter “gerettet” worden, was die europäischen Vorgaben bereits strapaziert.

Es verbleibt die Fortentwicklung des Auskunftsverfahrens, was unbedingt erfolgen sollte. Zudem bleiben ja noch andere Vorhaben, welche für Betroffene Digitaler Gewalt evtl. sogar wichtiger sind (vgl. z.B. HateAid-Stellungnahme S. 14 ff. und die angenommene Entschließung des Bundestages gemäß Ziff. II. 3. der Beschlussempfehlung des Digitalausschuss zum DDG). Dies betrifft v.a. den Ausbau und die Verstetigung der Betroffenenberatung (Koalitionsvertrag S. 14: “umfassende Beratungsangebote aufsetzen”), und Spezialisierungen und verbesserte Strukturen bei Polizei und weiteren Behörden.

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