03.08.2022

Very meaningful without meaning very much

Portrait von Christian Franz, LL.M.
Christian Franz, LL.M. Rechtsanwalt, Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz

Wenn Rechtsprechung nicht einmal versucht, dogmatisch zu sein, ist sie willkürlich. Zur Mutter aller schlechten Entschuldigungen für ein Urteil: Der EuGH und die „öffentliche Zugänglichmachung“ im Urheberrecht.

Was ist eine „öffentliche Zugänglichmachung“ im Urheberrecht? Man kann diese Frage diskutieren, oder man kann es bleiben lassen. Der Europäische Gerichtshof hat sich vor fast zehn Jahren für Letzteres entschieden (s. EuGH, Urt. v. 7.3.2013 - C-607/11, Rn. 21 und 31 - ITV Broadcasting/TVC). Das hat Folgen. Der Bundesgerichtshof hat gerade mit der Entscheidung „uploaded II“ (BGH, Urt. v. 2.6.2022 - I ZR 53/17) den EuGH mit einer seiner wohl plattesten Floskeln zitieren müssen:

„Im Rahmen einer derartigen Beurteilung sind eine Reihe weiterer Kriterien zu berücksichtigen, die unselbständig und miteinander verflochten sind. Da diese Kriterien im jeweiligen Einzelfall in sehr unterschiedlichem Maß vorliegen können, sind sie einzeln und in ihrem Zusammenwirken mit den anderen Kriterien anzuwenden. Unter diesen Kriterien hat der Gerichtshof die zentrale Rolle des Nutzers und die Vorsätzlichkeit seines Handelns hervorgehoben“.

Das ist es. Das ist der ganze „Rechtssatz“. Nein, es gibt keinen Hinweis darauf, welche „Kriterien“ gemeint sein sollen. Der EuGH – und mit ihm der hilflos hinterherzitierende Bundesgerichtshof – schaut den Rechtsanwender bedeutungsschwanger an. Mehr nicht.

Was will die Rechtsprechung uns mit diesem Blick sagen? „Wir wissen doch wohl alle, was gemeint ist, oder?“ Nein. Wissen wir nicht. Im Gegenteil; wir sind Juristen und gehen gemeinhin davon aus, dass Worte eine Bedeutung haben. Das kann die zitierte Floskel nicht für sich beanspruchen. Die „Verflochtenheit“ von Kriterien kann es dem Verfasser nicht ersparen, die Kriterien zu benennen. Genau das aber nimmt der EuGH und, mit ihm, der BGH an. Der Begriff der öffentlichen Zugänglichmachung – der erstmals im TRIPS-Agreement auftaucht und in § 19a UrhG Eingang ins deutsche Recht gefunden hat – soll nach dem BGH zwei (nochmal: ZWEI) Tatbestandsmerkmale aufweisen:

1. Eine Handlung der Wiedergabe.

2. Die Öffentlichkeit dieser Wiedergabe.

Aber das stimmt nicht. Unmittelbar nach der Behauptung, es gäbe lediglich zwei Tatbestandsmerkmale, widerlegt der BGH sich selbst und erklärt:

3. „Ferner erfordert dieser Begriff eine individuelle Beurteilung.“ (BGH, Urt. v. 2.6.2022 - I ZR 53/17, Rn. 19 – uploaded II).

Es schließt sich die Floskel des Grauens an, die den Gegenstand dieses Beitrags bildet. Der Rechtsanwender, der gerade zwei von zwei Tatbestandsmerkmalen geprüft hat, befindet sich nun auf Gleis neundreiviertel und rennt mit dem Kopf vor den Pfeiler: Er prüft das nicht vorhandene Tatbestandsmerkmal einer „Reihe von weiteren Kriterien“. Die nicht benannt werden.

Aber halt! Der EuGH hat sich ja entschieden, etwas „hervorzuheben“. Bei der „Hervorhebung“ handelt es sich um eine dem EuGH eigene Technik. Diese Floskel – die eigentlich einen eigenen Beitrag verdient – findet sich in fast jeder Entscheidung des EuGH. Sie wird genutzt, um sehr laut nichts zu sagen. So auch hier: Die „Hervorhebung“ hat keinerlei Inhalt. Begrifflich setzt sie voraus, dass es eine feststehende, dem Betrachter bekannte Menge an Tatsachen gibt, von denen einer Auswahl besonderes Gewicht verliehen werden soll. Hier aber fehlt es schon an den Umständen, aus denen einzelne herausgegriffen werden sollen. Die „Hervorhebung“ ist keine; es handelt sich um eine vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende begriffliche Neuschöpfung des EuGH. Nun mag man einwenden, der Rechtsanwender stelle sich aber doch absichtlich dumm: Einerseits wissen wir doch wohl alle, was für Kriterien gemeint sind, nicht wahr, und andererseits werden ja mit der Hervorhebung gleich zwei Kriterien genannt. Nicht wahr?

Nicht wahr.

Der EuGH behauptet, dass „die zentrale Rolle des Nutzers“ ein „Kriterium“ sei, anhand dessen beurteilt werden solle, ob eine „öffentliche Wiedergabe“ vorliege. Nun haben wir es hier mit harmonisiertem Recht zu tun, und folglich auch mit harmonisiertem Sprachgebrauch. Trotzdem wird man nicht umhinkommen, dem Duden auch in diesem Fall Recht zu geben. Ein Kriterium ist ein „unterscheidendes Merkmal als Bedingung für einen Sachverhalt, ein Urteil, eine Entscheidung“ (https://www.duden.de/rechtschreibung/Kriterium).

Die Behauptung des EuGH, der Nutzer nehme eine zentrale Stellung ein, ist kein Kriterium. Sie ist ein Postulat. Das nämlich ist „etwas, was von einem bestimmten Standpunkt aus oder aufgrund bestimmter Umstände erforderlich, unabdingbar erscheint“ (s. https://www.duden.de/rechtschreibung/Postulat). Es ist nicht etwa zu prüfen, ob oder ob nicht der Nutzer im Einzelfall eine zentrale Stellung einnimmt – er hat sie einfach. In welchem Kreis er im Zentrum steht, verschweigt der EuGH dabei schamhaft. Daran lässt sich nichts testen (wie man im Common Law sagen würde), daraus lässt sich erst recht nichts ableiten.

Nicht weniger aberwitzig ist die zweite „Hervorhebung“: Die Frage einer öffentlichen Wiedergabe soll davon abhängen, ob der Nutzer vorsätzlich gehandelt hat. Hier handelt es sich – endlich! – um ein Kriterium. Und dann auch noch um eins, das Juristen zu prüfen gelernt haben. Allein: Was will uns der Verfasser sagen? Ist die in Rede stehende Handlung fahrlässig denkbar? In allen Urteilen geht es um Veröffentlichungen im Internet. Die erfordern das Kopieren einer Datei auf einen Webserver, der vom Internet aus unter einer URL erreichbar ist. Um diese Umstände seines Handelns – das Kopieren einer Datei mit der Folge ihrer weltweiten Abrufbarkeit – weiß der Handelnde immer, und er muss sie auch wollen. Ein nur fahrlässiges, doloses Kopieren einer Datei in das Freigabeverzeichnis eines Webservers ist ausgeschlossen. Dafür ist die Handlung zu komplex. Schön illustriert wird das durch die Vertreterin einer Nazi-Partei, die sich öffentlich für das Erschießen von Menschen – namentlich Frauen und Kindern – an EU-Außengrenzen ausgesprochen und später damit entschuldigt hatte, sie sei auf der Computermaus ausgerutscht (s. https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2016-02/beatrice-von-storch-maus-computer). So etwas ist unmöglich.

Es stellt sich heraus: Auch dieses Kriterium (das vierte von zwei Tatbestandsmerkmalen) ist keins. Es beschreibt tautologisch die Tathandlung, die es zu prüfen gilt.

So eine Rechtsprechung, so ein Gericht, braucht kein Mensch. Es ersetzt die gebotene Analyse des Gesetzestexts mit rosa Schaum, um zu verdecken, dass die Entscheidung auf einer rein subjektiven Wertung der beteiligten Richter, auf nicht mehr als der eigenen Weltsicht beruht. Jede andere Entscheidung wäre mit einer derartigen Floskel exakt genauso plausibel (oder besser: unschlüssig) begründbar.

Was kann man daraus mitnehmen, außer der auf der Hand liegenden Frustration? Es sind zwei Dinge.

Einerseits: Man darf den EuGH nicht ernst nehmen. Die Art und Weise, wie der BGH den EuGH stets wörtlich zitiert, spricht dafür, dass er es nicht tut und stattdessen – richtigerweise – das Vakuum mit echter Juristerei füllt. Für den Rechtsanwender eröffnet das Spielraum: Der EuGH meißelt nichts in Stein, er malt flüchtig in die Wolken.

Andererseits: Will man EuGH-Entscheidungen prognostizieren, sollte man sich vom Recht abwenden und die politischen und weltanschaulichen Überzeugungen der beteiligten Richter des EuGH in den Blick nehmen. Sie sind es, die den EuGH leiten.

Falls sich übrigens jemand gefragt hat, wie man die Verwechslungsgefahr von Marken richtig beurteilt:

„Schließlich hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das Bestehen einer Verwechslungsgefahr umfassend, unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, zu beurteilen ist.“

Ja. „Hingewiesen“. Auf etwas, was ja sonst vielleicht nicht aufgefallen wäre oder so. Aber „relevant“ müssen sie sein, die Umstände, klar. Nein, der EuGH behauptet nicht mal, dass er Kriterien geprüft hätte. Er hat „hingewiesen“. Am besten liest man solche Urteile erst gar nicht (s. EUGH, Urteile vom 11. November 1997, SABEL, C-251/95, Slg. 1997, I-6191, Randnr. 22, vom 22. Juni 1999, Lloyd Schuhfabrik Meyer, C-342/97, Slg. 1999, I-3819, Randnr. 18, vom 6. Oktober 2005, Medion, C-120/04, Slg. 2005, I-8551, Randnr. 27, vom 12. Juni 2007, HABM/Shaker, C-334/05 P, Slg. 2007, I-4529, Randnr. 34, und vom 3. September 2009, Aceites del Sur-Coosur/Koipe, C-498/07 P, Slg. 2009, I-7371, Randnr. 46).

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