Zum Schutzgut der DSGVO: Eine naive Wortlautanalyse
Was schützt die DSGVO? Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung? Das Recht auf Privatleben? Das Recht auf Datenschutz? Eine Kombination aus Privatsphäre und Datenschutz? Das allgemeine Persönlichkeitsrecht? Die informationelle Integrität? Die informationelle Gewaltenteilung? Die Abwesenheit von Organisationswillkür und informationeller Asymmetrie? Alle Rechte und Freiheiten?
Die Frage nach dem Schutzgut der DSGVO ist nach wie vor der Elefant im Raum (siehe auch schon "Die Schutzgutmisere des Datenschutzrechts").
Liste genannter Schutzgüter
Umso erstaunlicher, dass sich Rechtsprechung und Literatur - soweit ersichtlich - bislang nicht die Mühe gemacht haben, den Wortlaut der DSGVO auf der Suche nach Schutzgütern zu sezieren. Vielleicht liegt es daran, dass die Antwort ernüchternd ausfällt. Nach dem Wortlaut von 125 Vorschriften der DSGVO werden geschützt (nach Nennungshäufigkeit; Nachweise der Normen im Anhang unten):
- Rechte (16 x)
- Rechte und Freiheiten (50 x)
- Rechte und Freiheiten sowie berechtigte Interessen (4 x)
- Persönliche Rechte und Freiheiten (1 x)
- Menschenrechte und Grundfreiheiten (1 x)
- Rechte und berechtigte Interessen (1 x)
- Datenschutzrechte (1 x)
- Grundrechte (3 x)
- Grundrechte und Grundfreiheiten (13 x)
- Grundrechte und Interessen (3 x)
- Grundrechte und Garantien (1 x)
- Grundrechte und personenbezogene Daten (1 x)
- Personenbezogene Daten und andere Grundrechte und Grundfreiheiten (1 x)
- Interessen (2 x)
- Berechtigte Interessen (6 x)
- Zwingende berechtigte Interessen (4 x)
- Zwingende schutzwürdige Gründe (1 x)
- Lebenswichtige Interessen (6 x)
- Interessen und Rechte (1 x)
- Interessen und Grundrechte (2 x)
- Interessen, Rechte und Freiheiten (1 x)
- Interessen oder Rechte und Freiheiten (2 x)
- Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten (3 x)
- Menschliche Würde, berechtigte Interessen und Grundrechte (1 x)
Kein Konzept
Diese Liste von Schutzgütern ist offensichtlich erratisch. Freundlich ausgedrückt, würde sie wohl eine Prüfung nach dem Handbuch der Rechtsförmlichkeit nicht bestehen.
Irgendwie will die DSGVO alle denkbaren Grundrechte, Grundfreiheiten, Rechte, Freiheiten und Interessen schützen, ohne diese aber konkret zu benennen, ohne eine einheitliche Terminologie zu verwenden, ohne Abstufungen zwischen Grundrechten, Rechten und Interessen vorzunehmen, ohne ein einheitliches Konzept zu verwenden und ohne die Umstrittenheit der Drittwirkung von Grundrechten zwischen Privaten überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen.
Liste der Schutzgut-Inhaber
Kräftig durcheinander geht es auch bei der Frage, wessen Schutzgüter geschützt werden sollen. Im Angebot sind:
- "betroffene Personen" (57 Nennungen im Zusammenhang mit Rechten/Freiheiten/Interessen),
- "natürliche Personen" (33 Nennungen),
- "Dritte" bzw. "andere Personen" (18 Nennungen) und
- ohne nähere Bezeichnung (6 Nennungen).
Motto
Eine derart gehäufte Inbezugnahme wohlklingender Schutzgüter nach dem Motto "Viel hilft viel" kann man wohl durchaus als populistisch bezeichnen. Dem Grundrechtsschutz bzw. dem Rechtsgüterschutz ist noch nicht damit gedient, dass man jede Norm postulieren lässt, sie diene dem Schutz von Grundrechten, Rechten, Freiheiten und Interessen.
Hauptsache Abwägung
Will die DSGVO wirklich alle denkbaren Rechte/Freiheiten/Interessen schützen, droht sie zum Vollkaskorecht gegen sämtliche Lebensrisiken zu werden (das sein Versprechen natürlich nicht einlösen kann). An 82 Stellen sieht die DSGVO Abwägungsentscheidungen vor:
- Welche Rechte/Freiheiten/Interessen gegen welche Rechte/Freiheiten/Interessen abzuwägen sind, sagt sie nicht.
- Maßstäbe für die vom Verantwortlichen vorzunehmende Abwägung fehlen demgemäß ebenfalls.
Fazit
Wenn alle Rechte/Freiheiten/Interessen gegen alle Rechte/Freiheiten/Interessen abzuwägen sind, muss dies zur Überforderung des Verantwortlichen und zur Enttäuschung von Erwartungen beim Betroffenen führen.
Die Schutzgutfrage bedarf dringend der Beantwortung. Die DSGVO beantwortet sie nicht.
Art. 18 II, 23 I, 25 I, 26 I 2, 26 III, 28 I, 28 III 1; EG 11, 57 S. 2, 59 S. 1, 108 S. 3, 141 S. 1, 142 S. 1, 142 S. 2, 153 S. 5, 154 S. 6 DS-GVO.
Art. 5 I e, 9 II i, 10, 15 IV, 20 IV, 23 I i, 23 II g, 24 I 1, 25 I, 27 II a, 30 V, 32 I, 33 I 1, 34 III b, 35 I 1, 35 VII c, 36 III c, 57 I c, 66 I 1, 66 III, 70 I h, 80 I, 87 S. 2, 88 I, 89 I 1; EG 78 S. 1, 79, 80 S. 1, 81 S. 3, 84 S. 1, 85 S. 2, 86 S. 1, 89 S. 3, 91 S. 1, 91 S. 3, 94 S. 1, 94 S. 5, 98 S. 2, 137 S. 1, 156 S. 1 DS-GVO.
Art. 14 V b, 22 II b, 22 III, 22 IV DS-GVO.
EG 116 S. 1 DS-GVO.
EG 52 S. 1, 102 S. 2, 153 S. 4 DS-GVO.
Art. 1 II, 4 Nr. 24, 23 I, 51 I; EG 2 S. 1, 3, 10 S. 2, 16 S. 1, 51 S. 1, 109 S. 1, 113 S. 2, 166 S. 1, 173 S. 1 DS-GVO.
Art. 9 II b, 9 II g, 9 II j DS-GVO.
EG 114 DS-GVO.
EG 53 S. 3 DS-GVO.
Art. 49 I c; EG 47 S. 4 DS-GVO.
Art. 6 I f, 13 I d, 14 II b, 49 I g; EG 47 S. 1, 111 S. 4 DS-GVO.
Art. 49 I 2, 49 I 4; EG 69 S. 2, 113 S. 1 DS-GVO.
Art. 6 I d, 9 II c, 49 I f; EG 46, 112 S. 2, 112 S. 5 DS-GVO.
EG 71 S. 6 DS-GVO.
EG 47 S. 4, 111 S. 4 DS-GVO.
Art. 49 I 2; EG 113 S. 1 DS-GVO.
Art. 6 I f; EG 47 S. 1, 69 S. 2 DS-GVO.