13.04.2020

Zweck und Zweckbindung: Warum die Lockerung der Corona-Maßnahmen verfassungsrechtlich notwendig ist

Portrait von Niko Härting
Niko Härting

Jeder Datenschutzrechtler kennt den Grundsatz der Zweckbindung. Personenbezogene Daten dürfen nur „für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden“ (Art. 5 Abs. 1 lit. b DSGVO). Dies ist eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Ein Prinzip, das bei den derzeitigen Corona-Maßnahmen viele Fragen aufwirft.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Welchen Zweck verfolgen die Corona-Maßnahmen?

Die Frage nach dem Zweck ist die Kernfrage des verfassungsrechtlichen Prinzips der Verhältnismäßigkeit. Wird in Grundrechte eingegriffen, so ist ein solcher Eingriff nur erlaubt, wenn der Eingriff einen legitimen Zweck verfolgt. Der Eingriff muss zudem geeignet und erforderlich sein, diesen Zweck zu erreichen. Und der Eingriff muss in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Zweck stehen.

Die Corona-Maßnahmen greifen tief in die Grundrechte der Bürger ein. Ob die Eingriffe verhältnismäßig und damit verfassungskonform sind, lässt sich nur anhand des Zwecks dieser Maßnahmen beurteilen. Aber welcher genaue Zweck wird denn verfolgt?

Zweck: Gesundheitsschutz?

Häufig heißt es, die Corona-Maßnahmen dienten dem „Gesundheitsschutz“. Es gehe darum, „Leben zu retten“. Dies ist gewiss richtig, aber doch zugleich zu kurz gedacht. Wenn es nur darum geht, die Gesundheit von Bürgern zu schützen und Leben zu retten, sind Ausgangsbeschränkungen und Betriebsschließungen gewiss ein geeignetes und auch erforderliches Mittel. Die Hürde der Angemessenheit können die Maßnahmen jedoch nicht nehmen, ginge es nur um „Gesundheitsschutz“:

Weder die Gefährdung von Arbeitsplätzen und Existenzen (Art. 12, 14 GG) noch die Einschränkung der Freizügigkeit (Art. 11 GG) oder die Beschränkung der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) stehen in einem angemessenen Verhältnis zu dem bezweckten „Gesundheitsschutz“.

Wir verbieten keinen Straßenverkehr, keinen Alkoholkonsum und nicht einmal die Selbsttötung, obwohl jedes dieser Verbote Menschenleben retten würde. Ein Verbot des Straßenverkehrs wäre zum Zwecke des „Gesundheitsschutzes“ zweifelsohne geeignet und erforderlich, würde dem Gesundheitsschutz jedoch gegenüber der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) einen Vorrang einräumen, der unangemessen und damit unverhältnismäßig wäre. Allein der Gesundheitsschutz kann daher die Corona-Maßnahmen nicht legitimieren.

Zweck: Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung?

Da allein der „Gesundheitsschutz“ nicht ausreicht, um die tiefgreifenden Corona-Maßnahmen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, hat sich das BVerfG in seiner Gottesdienst-Entscheidung vom vergangenen Freitag um eine Präzisierung des Maßnahmenzwecks bemüht:

„Der Hessische Verwaltungsgerichtshof verweist in dem angegriffenen Beschluss zu Recht darauf, dass es nach der Bewertung des Robert-Koch-Instituts in dieser frühen Phase der Pandemie darum geht, die Ausbreitung der hoch infektiösen Viruserkrankung durch eine möglichst weitgehende Verhinderung von Kontakten zu verlangsamen, um ein Kollabieren des staatlichen Gesundheitssystems mit zahlreichen Todesfällen zu vermeiden.“ (BVerfG v. 10.4.2020, Az. 1 BvQ 28/20, Rz. 14, Hervorhebung hinzugefügt)

Nach der Lesart des BVerfG geht es bei den Corona-Beschränkungen somit darum, den Zusammenbruch des „staatlichen Gesundheitssystems“ zu verhindern. Wenn man dies als den Zweck der gesetzlichen Verbote ansieht, lassen sich die Maßnahmen als geeignet, erforderlich und auch angemessen ansehen, sodass das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Dies allerdings nur wegen der Befristung bis zum 19.4.2020 und mit der Maßgabe einer fortlaufenden Überprüfung,

„ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, das Verbot von Gottesdiensten unter – gegebenenfalls strengen – Auflagen und möglicherweise auch regional begrenzt zu lockern.“ (BVerfG, a.a.O., Hervorhebungen hinzugefügt)

Das BVerfG hat somit einen Zweck definiert, der – jedenfalls bei summarischer Prüfung – die Corona-Maßnahmen legitimieren kann. Ob dieser Zweck (Schutz des „staatlichen Gesundheitssystems“) den Regierenden klar vor Augen war, als sie die Betriebsschließungen und Ausgangsbeschränkungen beschlossen, ist zweifelhaft. Die Verlautbarungen der Kanzlerin konnte man eher so verstehen, dass ein „Abflachen der Kurve“ („Flatten the Curve“) das unmittelbare Ziel war. Sie sprach zunächst von einem beabsichtigten Abflachen auf 10 Tage für die Verdoppelung der Infiziertenzahlen und erhöhte diese Kennziffer später auf 12 bis 14 Tage. Mittlerweile ist die „Kurve“ so flach, dass sich die Infiziertenzahlen nur noch alle 18 Tage verdoppeln.

Zweck: „Atempause“?

Die wechselhaften Zahlenangaben zeigen, dass den Regierenden die Zwecke der Corona-Maßnahmen jedenfalls am Anfang nicht vollständig klar waren. Es ging wohl zunächst einmal darum, eine "Atempause" zu gewinnen, um eine geordnete Strategie für den Umgang mit Corona zu planen.

Eine solche "Atempause" mag sich gleichfalls als Zweck erweisen, der die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfüllt. Denn die Corona-Maßnahmen waren für eine solche Atempause gewiss geeignet und erforderlich, und man mag sie auch für angemessen halten im Hinblick auf den Verlauf der Pandemie, der Mitte März schwer vorhersehbar war.

Gebot der Lockerung

Versteht man die Corona-Maßnahmen – wie das BVerfG – als Maßnahmen zum Schutz des „staatlichen Gesundheitssystems“ oder – wie hier – als „Atempause“, so erscheint eine Lockerung jetzt zwingend geboten. Ein Kollaps des Gesundheitssystems ist derzeit nicht in Sicht, und die „Atempause“ von einem guten Monat war lang genug, um einen „Einstieg in den Ausstieg“ zu planen. Allein der „Gesundheitsschutz“ ist jedenfalls kein Grund, die Ausgangsbeschränkungen und Betriebsschließungen über den 19.4. hinaus zu verlängern, ohne gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu verstoßen und einen Verfassungsverstoß in Kauf zu nehmen.

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