Alle Jahre wieder ...
… kommt in der Vorweihnachtszeit die neue Düsseldorfer Tabelle. Dass die notwendigen Anpassungen regelmäßig in den Dezember fallen, folgt aus der Agenda des Gesetzgebers, der über wichtige Rahmendaten wie Existenzminimumbericht, Kinderfreibeträge und Regelbedarfe erst in den letzten Wochen des Jahres entscheidet. Zwar gab es schon einen Mindestunterhalt für 2023; die offensichtlich notwendige Korrektur der ein Jahr zuvor getroffenen Prognose folgte jedoch erst mit der 5. Änderungsverordnung v. 30.11.2022 (BGBl. I, 2130). Die Zeiten, in denen Tabellenwerte mehrere Jahre überdauerten, sind schon lange vorbei und die Überlegung des Gesetzgebers zur letzten Neufassung des § 1612a BGB, für jeweils zwei Jahre einen einheitlichen Mindestbedarf vorzugeben, haben sich von Anfang an als nicht praktikabel erwiesen.
Wer sich näher mit dem System der aktuellen Düsseldorfer Tabelle beschäftigt, kommt an der Erkenntnis nicht vorbei, dass diese durch die inflationäre Preisentwicklung des vergangenen Jahres an ihre Grenzen stößt. Der im Verhältnis zu den Vorjahren ungewöhnlich starke Anstieg des Kindesbedarfs und der Selbstbehaltssätze war angesichts der weit überproportional gestiegenen und noch weiter steigenden Lebenshaltungskosten keine Überraschung. Mit dem Kinderfreibetrag erhöhte sich der Mindestunterhalt um 10,3 %; die damit verbundene höhere Zahllast wird durch die Anhebung des Kindergeldes auf 250 € nur etwas gedämpft. Während diese Zahlen in etwa der Inflationsrate entsprechen, war beim notwendigen Selbstbehalt mit rund 18 % eine deutlich stärkere Anhebung zu verzeichnen. Hier wirken drei Faktoren zusammen: Neben dem allgemein höheren Lebensbedarf sind dies der nach 17 Jahren erstmals um 50 € (die lediglich den seither eingetretenen Kaufkraftverlust ausgleichen) angehobene Freibetrag für Erwerbstätige und die erheblich steigenden Wohnkosten. Der damit einhergehende sprunghafte Anstieg des Eigenbedarfs deckt auf, wie sehr sich die Gerichte in den letzten Jahren mit einer Anpassung der Selbstbehaltssätze zurückgehalten haben – oder anders ausgedrückt, die Unterhaltspflichtigen spürbare Einschränkungen in ihrer Lebensführung hinnehmen mussten. Für alle Beteiligten wäre es einfacher und überzeugender, wenn Unterhaltsbedarf und Eigenbedarf jeweils gleichzeitig und in kleineren Schritten an die sich ändernden Lebensumstände angepasst würden.
Nun gibt es nur ein Einkommen, aus dem die Bedarfe von Berechtigten und Verpflichteten aufgebracht werden müssen. Steigen diese, wird die Verteilungsmasse bei gleichbleibendem Einkommen kleiner. Dabei zeigen sich deutliche Risse in einer Tabellenstruktur, die immer noch davon ausgeht, sich am Bedarf für zwei Unterhaltsberechtigte zu orientieren. Wer nachrechnet, muss feststellen, dass er unter Wahrung des notwendigen Selbstbehalts der Mindestunterhalt nur aufgebracht werden kann, wenn für zwei Kinder der ersten Altersstufe ein Einkommen von wenigstens 2.000 € zur Verfügung steht und es 2.300 € sein müssen, sobald beide Kinder das 12. Lebensjahr erreicht haben. Dies alles fällt schon in den Bereich der zweiten Einkommensgruppe. Ein höherer Kindesbedarf kommt ohnehin erst dann in Betracht, wenn dem Pflichtigen selbst der angemessene Bedarf verbleibt (BGH v. 27.10.2021 – XII ZB 123/21, FamRB 2022, 51). Damit kann es selbst bei Einkommen aus der dritten Einkommensgruppe noch beim Mindestunterhalt verbleiben.
Unter diesen Umständen eignet sich die Tabelle in ihrem Hauptanwendungsbereich der kleinen und mittleren Einkommen nicht mehr, um unmittelbar den nach der Lebensstellung angemessenen Kindesbedarf abzulesen. Die vorstehend skizzierten Probleme dürften sich im kommenden Jahr noch verschärfen, da mit weiter steigenden Bedarfssätzen zu rechnen ist. Wenn die Gerichte sich nicht zeitnah um eine Neustrukturierung der Tabelle und ihrer Anwendungsgrundsätze bemühen, laufen sie Gefahr, eines ihrer wichtigsten Werkzeuge aus der Hand zu geben.