Erwiderung auf „Die Düsseldorfer Tabelle 2022 - es besteht Handlungsbedarf“ (DFGT, FamRZ 2021, 923 = FamRB 2021, 348)
Da kommt etwas auf die unterhaltsrechtliche Praxis zu, auch wenn es zunächst nur ein Diskussionsbeitrag des Vorstands der Unterhaltskommission des DFGT ist.
Der in FamRZ 2021, 923 = FamRB 2021, 348 veröffentlichten Stellungnahme der Unterhaltskommission des DFGT mit dem Titel: „Die Düsseldorfer Tabelle 2022 - es besteht Handlungsbedarf“ kann zwar in ihrem Programmsatz zugestimmt werden, dem weiteren Inhalt jedoch allenfalls teilweise.
Soweit die neuen um 40 € bzw. 70 € erhöhten Selbstbehaltssätze ab 2022 vorgestellt werden (unter IV.), besteht kein großes Problem (mit einer Ausnahme beim Ehegattenselbstbehalt, dazu später), denn sie folgen den gestiegenen Lebenshaltungskosten seit der letzten Erhöhung.
Eine diskutable Änderung ist die erneute Umstellung der Düsseldorfer Tabelle hinsichtlich der Zahl der Berechtigten, dieses Mal von zwei auf einen. Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass damit – wie bereits erstmals 2010 bei der Umstellung von drei auf zwei Berechtigte (diese Änderung war bei dem Wegfall der Einkommensgruppe 1.501–1.900 € ab 1.1.2018 in der Begründung nicht erwähnt worden; krit. Schwamb, FamRB 2018, 67, 69) und eben auch wie beim Wegfall der vormals zweiten Einkommensgruppe – eine Ermäßigung der Unterhaltsverpflichtung in den höheren Einkommensgruppen verbunden ist, die wieder genau den Unterschiedsbetrag einer Einkommensgruppe ausmacht.
Wenn dem heute dennoch zugestimmt werden kann, dann deshalb, weil (insoweit eine Parallele zu 2010) tatsächlich eine deutlich überproportionale Anhebung des Mindestunterhalts 2020 und vor allem 2021 eingetreten ist, die die Verschiebung bei der Einordnung in die Einkommensgruppen eher rechtfertigt als 2018, wobei die Zahlbeträge trotz des gestiegenen Kindergelds nicht noch einmal hinter 2017 zurückfallen. Ärgerlich bleibt daran allerdings, dass anders als bei – schon 2016 vom Verfasser noch in der Kommission erstmals vorgeschlagenen – kleineren schrittweisen Anpassungen der Einkommensgruppen nun erneut wie 2018 ein einmaliger „harter Schnitt“ vollzogen wird, der zudem bei dynamischen Titeln nicht eintritt (ob deswegen eine Abänderung zulässig ist, ist zumindest nicht unstreitig) und auch die noch 2021 festgelegten starren Unterhaltstitel höher ausfallen als im kommenden Jahr erstellte.
Damit ist aber die Konsensfähigkeit des Kommissionspapiers auch schon weitgehend aufgebraucht.
Das gilt insbesondere für den erneuten Angriff auf die Altersstufe 4 mit etwa derselben Argumentation wie schon 2007 (!) und 2018 (Schürmann, FamRZ 2007, 545, 547 und FamRB 2018, 32; dagegen ausführlich Schwamb, FamRB 2018, 67, 69 und Staudinger/Klinkhammer, BGB, 2018, § 1610 Rz. 321). Wirklich Neues, was es rechtfertigt, dieses Fass erneut zu öffnen, nachdem erst vor 1 1/2 Jahren mühsam ein Kompromiss gefunden worden ist (mit seither 125 % gegenüber der Altersstufe 2 als Ausgangspunkt nach § 1612a Abs. 1 Nr. 2 BGB – bis 2017 waren es 134 %), enthält der neue Vorschlag nicht; vielmehr werden die in der letzten Diskussion eigentlich ausgeräumten, weil hier nicht passenden Vergleiche mit dem SGB II und dem ermäßigten, gelegentlich als „Strafunterhalt“ bezeichneten Betrag für die jungen arbeitslosen Erwachsenen nur aufgewärmt. Alle weiteren Argumente für den Erhalt der 4. Altersstufe aus den beiden obigen Fundstellen müssen hier nicht wiederholt werden. Angesichts der mit Volljährigkeit bei Vollanrechnung des Kindergeldes drastisch sinkenden Zahlbeträge sei aber doch auf folgende Zahlen seit 2017 aufgrund des zwischenzeitlichen Einfrierens der 4. Altersstufe bis auf jetzt 125 % gegenüber § 1612a Abs. 1 Nr. 2 BGB im Wege des Kompromisses hingewiesen.
Unterhaltspflichtiger M mit 1.800 € bereinigt netto und nur einem Kind K, geb. am 1.7.1999 (F ohne ausreichendes Einkommen):
- Zahlbetrag 2017: 410 € bis Juni (damalige Einkommensgruppe 2 um eine hochgestuft nach 3 in der 3. Altersstufe), 388 € ab Juli (damalige Einkommensgruppe 2 um eine hochgestuft nach 3 in der 4. Altersstufe und Vollanrechnung Kindergeld)
- Zahlbetrag 2018: 360 € (neue und eingefrorene Einkommensgruppe 1 um eine hochgestuft nach 2)
- Zahlbetrag 2019: 360 € bis Juni, 350 € ab Juli (wegen Kindergelderhöhung um 10 €)
- Zahlbetrag 2020: 353 € (erste geringfügige Erhöhung infolge des o.g. Kompromisses in der erweiterten Kommission)
- Zahlbetrag 2021: 374 € (Erhöhung trotz Erhöhung des Kindergeldes, aber immer noch weniger zu zahlen als 2017)
- Zahlbetrag 2022: 345 e (ohne mir noch nicht bekannte Erhöhung bei Einkommensgruppe 1, nun aber ohne Hochstufung nach 2)
Die Absenkung für einen 18 Jahre alten Schüler ggü. 2017 wird also noch nicht einmal durch das von 194 auf 219 € gestiegene Kindergeld kompensiert. Ohne den nun wieder in Frage gestellten Kompromiss von 2020 wären es noch einmal 24 € weniger, also Zahlbetrag 321 €. Dagegen erhält der 17 Jahre alte Schüler 418,50 € ausgezahlt.
Der Verfasser ist in der Vergangenheit nicht dafür bekannt geworden, unkritisch dem BGH zu folgen; aber in diesen Vorschlägen der Kommission zur Neufassung der Düsseldorfer Tabelle 2022, die ja eigentlich die obergerichtliche Rechtsprechung vereinfacht für die praktische Anwendung abbilden soll, wird dann doch recht sportlich mit der Rechtsprechung des BGH umgegangen.
Das betrifft zum Beispiel die (Wieder-)Aufgabe eines zutreffend geteilten Ehegattenselbstbehalts für Erwerbstätige und Nichterwerbstätige (gerade erst 2020 in der Düsseldorfer Tabelle eingeführt auf Grund BGH v. 16.10.2019 - XII ZB 341/17, FamRZ 2020, 97 Rz. 28 = FamRB 2020, 4 mit zust. Anm. Schwamb, bereits zuvor u.a. in den Leitlinien des OLG Hamm und Frankfurter Unterhaltsgrundsätzen jeweils Nr. 21.4).
Es geht weiter mit der Diskussion über die Höhe des Erwerbstätigenbonus beim Ehegattenunterhalt. Deutlich hatte sich hier der BGH (BGH v. 13.11.2019 - XII ZB 3/19, NZFam 2020, 109 Rz. 23 m. krit. Anm. Schürmann = NJW 2020, 238 m. Anm. Graba = FamRZ 2020, 171 = FamRB 2020, 53), und zwar ausdrücklich a.a.O. in Rz. 23 unter Hinweis auf seine Berechnungsweise in BGH v. 16.4.1997 - XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806, 807, für eine einheitliche 1/10-Lösung ausgesprochen (zustimmend Schwamb, NZFam 2020, 847, 849). Diese Diskussion ist zwar sowieso noch in vollem Gang (mit bekannt unterschiedlichen Ergebnissen auch in den Frankfurter Unterhaltsgrundsätzen), aber was die Kommission damit vorhat, ist schon bemerkenswert. Es soll das einheitliche 1/10 kommen, aber mit einer der bisherigen (wie gesagt gerade erneut zitierten) BGH-Rechtsprechung seit FamRZ 1997, 806, 807 ausdrücklich widersprechenden Berechnungsweise (nämlich Bonusbildung vor Abzug des Kindesunterhalts und privater Schulden, ohne die o.g. 1997-er Entscheidung und ihre damalige Begründung zu erwähnen). Das führt dann zu folgendem Berechnungsbeispiel:
M: 3.800 € netto – 300 € Schuldendienst – 700 € Kindesunterhalt = 2.800 € bereinigt. F: 700 € netto bereinigt.
- Herkömmlicher 1/7-Bonus: 2.800 € – 700 € = 2.100 €. 3/7 = 900 € UE.
- Der „neue“ 1/10-Bonus (gegen BGH FamRZ 1997, 807): M: 3.800 € – 380 € – 300 € – 700 € = 2.420 €. F: 700 € – 70 € = 630 €. 2.420 € – 630 € = 1.790 €, hiervon 1/2 = 895 € UE (mit „nur“ 1/10 Bonus).
Besser lässt es sich kaum veranschaulichen. Das neue 1/10 ist hier größer als das alte 1/7.
Wenn dazu u.a. ausgeführt wird „Halbteilung und Erwerbstätigenbonus beruhen nicht auf gesetzlichen Vorgaben“ (unter Bezugnahme auf Schwonberg, FF 2021, 47, 50) mag das für den Bonus gelten, nicht jedoch für den mit ihm eingeschränkten Halbteilungsgrundsatz, der das gesamte Familienvermögensrecht durchzieht und Verfassungsrang hat.
Soweit die Kommission zunächst die vom BGH (BGH v. 16.9.2020 – XII ZB 499/19, FamRZ 2021, 28 = FamRB 2021, 6) angeregte Fortschreibung der Düsseldorfer Tabelle über die bisherigen zehn Einkommensgruppen hinaus als nicht notwendig kritisiert, ihr dann aber doch folgen will, wird allerdings dem gut begründeten (jedoch von der Kommission mit 272 % und 24 Einkommensgruppen nicht zutreffend zitierten) Vorschlag von Borth, FamRZ 2020, 339 (mit 240 % und 20 Einkommensgruppen bei 11.000 € endend) als überhöht widersprochen und stattdessen mit einer keine klare Struktur aufweisenden Gruppenbildung gerade einmal die Erhöhung von 160 % auf 200 % (bei doppelter Einkommenshöhe) befürwortet. Für diese eher kosmetische Erhöhung bräuchte es tatsächlich keine Fortschreibung der Tabelle. Da die Kommission zudem die 10. Einkommensgruppe nun bei 5.600 € (statt derzeit 5.500 €) enden lassen will, ihre 15. (eigentlich verdoppelte) aber bei 11.000 Euro enden lässt, „verrutscht“ dabei – wohl unabsichtlich – auch noch die „doppelte“ Einkommenshöhe i.S.d. neuen BGH-Rechtsprechung (dazu beim Ehegattenunterhalt Schwamb, NZFam 2020, 847).
Zum Elternunterhalt sei nur angemerkt, dass für das angesprochene Problem, ein Kind verdient über 100.000 €, das andere unter 100.000 €, die dafür in Fn. 32 des Papiers (im FamRB: Fn. 31) zitierten Autoren noch um eine BGH-Entscheidung zu ergänzen wären, die zu § 43 SGB XII ergangen ist, bei dem es das Problem in abgewandelter Form schon zuvor gab (vgl. BGH v. 8.7.2015 – XII ZB 56/14, FamRZ 2015, 1467 Rz. 47, 48 = FamRB 2015, 330 [Hauß]; dazu Niepmann/Seiler, 14. Aufl. 2019 bzw. zuvor Niepmann/Schwamb, 13. Aufl. 2016, jew. Rz. 222 unter „Rückgriffseinschränkung“). Zumindest bedürfte es einer Auseinandersetzung mit der dort für § 43 SGB XII gefundenen differenzierenden Lösung.
Man darf gespannt sein, was aus dem „es besteht Handlungsbedarf“ weiter erwächst. Die Tendenz der Vorschläge geht jedenfalls (erneut) in Richtung Einschränkung von Unterhaltsansprüchen. Das Echo der 2018er-Reform der Tabelle und der damalige Ruf nach dem Gesetzgeber hallen noch nach.