05.03.2018

Juristischer Sirtaki, die GroKo und Tabellentümelei

Portrait von Jörn Hauß
Jörn Hauß Fachanwalt für Familienrecht

Der Film „Alexis Sorbas“ hat mindestens in gleichem Maße wie die Philosophen der Antike und die Finanzkrise den „Mythos Griechenland“ begründet. Da bauen die Bewohner eines vom – natürlich – blauen Meer umrahmten Dorfes mit großem Eifer eine Seilbahn auf den Hügel eines Berges, um das im Hinterland wachsende Holz zur Sanierung des maroden Bergwerks eines Amerikaners und ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage zu nutzen. Das Werk wird vollendet, der Plan nicht. Der erste Holztransport reißt die ganze Anlage schon bei der Einweihung nieder und der Amerikaner ist pleite. Der Schock schlägt in berstende sirtakitanzende Lebensfreude um, als der Hauptprotagonist den Satz sagt: „He Boss, hast Du schon jemals gesehen, dass etwas so schön zusammenkracht?“[1].

Die Parallele dieses Films zum elektronischen Anwaltspostfach zu ziehen ist billig. Statt Trübsal über mangelnde technische Kompetenz im Facebook- und WhatsApp-Zeitalter zu blasen, dominieren die ‚Wir-haben-es-ja-immer-schon-gewusst‘-Juristen die hämischen Debatten in der Gerichtskantine.

Zurück am Schreibtisch wird in der Trennungssache X ./. Y der Unterhalt für y(6) und x(10) berechnet.[2] Die Kinder sind natürlich in Obhut der Mutter, die 2/3-schichtig 1.400 € verdient. Bereinigtes Einkommen des Vaters: 1.910 €. Umgangsrecht wie üblich, nur fährt der Vater x immer zusätzlich zu seinen Fußballturnieren am Wochenende und übernimmt auch die Beschaffung der Sportkleidung und die Kosten der Musikschule für y. Ein Blick in die Düsseldorfer Tabelle oder auf den Bildschirm: für x sind 322 € und für y 268 € zu berappen. Resteinkommen X: 1.320 €.

Nächste Akte: Scheidung (VKH) V ./. M. Heirat 2010, ein Kind, Trennung 2013, einverständlicher Scheidungsantrag 2016. Versorgungserwerb V: 0,855 EP, M: 4,3500 EP. Entscheidungsvorschlag des Gerichts zum Versorgungsausgleich: Halbteilung. Ein Blick auf Bildschirm, Taschenrechner oder – im Vertrauen darauf, dass der Richter die Daten richtig erfasst hat – aus dem Fenster und das Ergebnis wird abgenickt.

Begründung für beide Ergebnisse: Tabelle und Halbteilungsgrundsatz.

Bewertung der Ergebnisse: beide (wahrscheinlich) falsch.

Grund: Tabellen und Rechenprogramme können kein Jura.[3]

Die GroKo erwägt in ihrem Programm, die Selbstbehalts- und Bedarfssätze für Kinder ins Gesetz zu schreiben, weil die Strukturänderung der Tabelle zum Jahr 2018 so brutal aufgedeckt hat, dass wir in Deutschland ein Armutsproblem haben. Das zu kaschieren traut man sich selbst eher zu als der Jurisdiktion. Wenn nämlich der Kindesunterhalt auch nur minimal gesenkt wird, löst das einen archaischen Beschützerreflex und damit ein boulevardeskes Empörungsritual aus, dem sich die Politik offenbar nicht entziehen kann.

Um nun auf unsere beiden Fälle zurückzukommen:

  • Fall 1: Bei so knappem Erreichen der Einkommensgruppe 2 und der Übernahme von eigentlich aus dem Kindesunterhalt zu finanzierenden Bedarfen im Rahmen der von X übernommenen Betreuungszeiten (vulgo Umgangszeiten) kann auch eine Abgruppierung in Einkommensstufe 1 oder einen Zwischenwert berechtigt sein, oder man bereinigt das Einkommen des Vaters um einen Betreuungsbarbetrag für Fahrdienst und Sportbekleidungskosten (einschließlich der Currywurstverpflegung beim Bambini-Turnier). Schließlich bleibt der Mutter am Ende mehr Liquidität als dem Vater.
  • Fall 2: Ein Blick in den Versicherungsverlauf offenbarte bei M ehezeitliche Inhaftierung und Therapie und bei Y, dass ausschließlich Kindererziehungszeiten dem Versorgungserwerb zugrunde lagen. § 27 VersAusglG kann in diesen Fällen angewendet und der Mutter so geholfen werden.

Um auf die GroKo zurückzukommen: Wenn wir Angemessenheits- und Billigkeitsprüfungen den Rechnern und Tabellen überlassen und die mit deren Hilfe gefundenen Ergebnisse nicht auf ihren Gerechtigkeitsgehalt überprüfen, werden wir zu Opfern von Rechenprogrammen und Tabellen oder einer großen Koalition. Das wird auch dann nicht besser, wenn die Sätze im Gesetz stehen, sondern eher schlechter, weil noch zementierter. Es ist Sache der Anwaltschaft zu den Besonderheiten eines Falls vorzutragen, die tatsächlichen Kosten des Wohnens, die Betreuungskosten während des Umgangs und den Mehrbedarf eines musizierenden oder kickenden Kindes, aber auch berufs- oder sonstigen Mehrbedarf des barunterhaltspflichtigen Elternteils zu thematisieren. Es ist Sache der Richterschaft, solchen Vortrag zur Kenntnis zu nehmen, ihn abzuwägen und zu würdigen, anstatt ihn mit Verweis auf Tabellen, Leitlinien und Berechnungsprogramme abzubügeln und den Programmausdruck auch noch zur Urteilsbegründung zu machen.

Die Macher der Düsseldorfer Tabelle haben solche Öffnungsklauseln in die Tabelle und die Leitlinien geschrieben und damit die für Juristen nötige ‚Luft zum Atmen‘ implementiert. Die Tabelle selbst ist ja – zum Glück – kein Gesetz, sondern versteht sich als Hilfe zur Ermittlung eines angemessenen Ergebnisses. Würde sie juristisches Denken und Handeln ersetzen, brauchten Familienrechtler kein Studium, sondern eine EDV-Schulung.

Und um schließlich auf Alexis Sorbas zurückzukommen: Der bildschöne Crash der Technik hat die Rodung des Gemeindewaldes und die damit verbundene ökologische Sünde verhindert und den Sirtaki berühmt gemacht. Ich wünsche uns Familienrechtlern einen längeren Computercrash, die Zeit, die Anmerkungen zur Tabelle und die Leitlinien zum Unterhalt in Ruhe zu lesen, und dass wir dann juristischen Sirtaki tanzen, solange wir können, um lebensechte und -gerechte Ergebnisse zu erzielen.

[1] Kein Beitrag ohne Fußnote: www.youtube.com/watch?v=JQU6KApL3xI.

[2] X für Mann, Y für Frau, x für Bub, y für Mädchen.

[3] Weil der Satz so schlechtes Deutsch ist, prägt er sich besser ein.

Zurück