Kein Verlust sorgerechtlicher Kompetenzen allein aufgrund religiöser Zugehörigkeit (KG v. 5.9.2022 – 16 UF 64/22)
Der Umsetzung medizinischer Maßnahmen für ein Kind können, aus der Religionszugehörigkeit eines oder beider Elternteile folgend, Hindernisse entgegenstehen, etwa die Verweigerung auch medizinisch indizierter Bluttransfusionen. Gehört ein Elternteil jedoch der jeweils verweigernden Religionsgemeinschaft nicht an, so kann sich die Frage ergeben, ob das Kindeswohl die Übertragung der elterlichen Sorge – zumindest in Teilbereichen – auf diesen Elternteil erfordert, um im Notfall ein unverzügliches Handeln zu gewährleisten. Mit einem entsprechenden Sachverhalt hat sich das KG befasst.
In dem zugrundeliegenden Sachverhalt beantragte der Vater des 2009 geborenen Kindes die Übertragung der alleinigen Entscheidungsbefugnis zur Vornahme einer Bluttransfusion bzw. zu Operationen, für die eine Bluttransfusion erforderlich sein könnte unter Verweis auf die Zugehörigkeit der Mutter zu den Zeugen Jehovas und deren Ablehnung entsprechender Behandlungen. Gegen die Entscheidung des Ausgangsgerichts, durch die dem Vater antragsgemäß die Entscheidungsbefugnis übertragen wurde, legte die Mutter Beschwerde ein. Der Senat hat die Ausgangsentscheidung abgeändert und den Antrag des Vaters zurückgewiesen.
Zur Begründung hat er ausgeführt, dass der Antrag nicht auf § 1628 Satz 1 BGB gestützt werden könne, da es sich bei der beantragten Entscheidung nicht um eine einzelne Angelegenheit oder bestimmte Angelegenheit der elterlichen Sorge handele. Auch die Übertragung dieses Teilbereichs der elterlichen Sorge nach § 1671 BGB sei nicht gerechtfertigt, da es ansonsten der Mutter verwehrt werde, bei schwerwiegenden Erkrankungen des Kindes, in eigener Verantwortung, unter Berücksichtigung des Kindeswillens und im gegenseitigen Einvernehmen mit dem Vater, zum Wohl des Kindes die beste medizinische Behandlung auszuwählen. Allein aus ihrer derzeit ablehnenden Haltung könne nicht geschlossen werden, dass sie sich, sollte ein Rückgriff auf von ihr akzeptierte alternative Behandlungsmethoden nicht möglich oder nicht hinreichend erfolgversprechend sein, auf Kosten der Gesundheit oder das Leben ihres Kindes gleichwohl gegen eine Transfusion entschieden werde. Im Notfall würden sich die behandelnden Ärzte zudem am mutmaßlichen Willen des Patienten bzw. seiner Eltern orientieren. Sei dieser Wille nicht zweifelsfrei zu ermitteln, so werde vermutet, dass eine erforderliche Transfusion im wohlverstandenen Interesse des Patienten liege. Selbst soweit im Notfall nur die Mutter als allein vertretungsberechtigte Person vorhanden wäre und die Transfusion verweigere, bedürfe es vorab einer gerichtlichen Entscheidung gem. § 1666 BGB, da eine missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge im Raum stehe. Verbleibe keine Zeit für die gerichtliche Entscheidung, so liege ein Notfall vor, in dem der Arzt verpflichtet sei, das Leben und die Gesundheit des Kindes durch medizinisch notwendige Maßnahmen zu schützen.
In seiner Entscheidung richtet das KG den Blick auf die für die Praxis bedeutsame Differenzierung zwischen den Anwendungsbereichen des § 1628 BGB sowie des § 1671 BGB. Gerade soweit lediglich nur Teilbereiche der elterlichen Sorge im Streit sind, werden häufig die jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen nicht ausreichend beachtet.
§ 1628 BGB Norm findet ausschließlich im Zusammenhang mit konkret situativen Entscheidungen Anwendung, d.h., wenn die Eltern zu einer spezifischen Einzelangelegenheit, die für das Kind von wesentlicher Bedeutung ist, kein Einvernehmen erzielen können. Derart „punktuell-sachbezogene Konflikte“ können sich etwa auf den Besuch einer bestimmten Schule oder die Durchführung eines konkreten medizinischen Eingriffs richten. Das Gericht überträgt sodann die Entscheidungskompetenz zu der konkreten Angelegenheit jenem Elternteil, dessen Vorschlag dem Kindeswohl am besten entspricht, ohne dass im Übrigen jedoch in das Recht der elterlichen Sorge eingegriffen wird, d.h., das Gericht ist nicht zu einer eigenen Sachentscheidung befugt.
Davon abzugrenzen ist die auf § 1671 BGB gestützte Übertragung eines Teilbereichs der elterlichen Sorge, d.h. etwa die Entscheidungsbefugnis zu schulischen Angelegenheiten in ihrer Gesamtheit oder der gesamten medizinischen Versorgung des Kindes. Hier intendiert die gerichtliche Entscheidung zwingend einen Eingriff in das Recht der elterlichen Sorge, d.h., auf der Grundlage der nach § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB durchzuführenden doppelten Kindeswohlprüfung weist das Gericht in seiner Entscheidung den beantragten Teilbereich der Sorge einem Elternteil zur Ausübung zu, so dass dieser Elternteil künftig in diesem Teilbereich zu allen Einzelfragen allein entscheidungsbefugt ist.
Ein auf § 1671 BGB gestützter Antrag enthält daher immer als „Minus“ auch einen Antrag nach § 1628 BGB, so dass auch eine Umdeutung möglich ist.