Löschung zwangsvernetzter Apps zur Abwehr von Kindeswohlgefährdungen (AG Bad Hersfeld v. 22.07.2016 – F 361/16 EASO)
Wohl kaum ein anderer Begriff wie der der Kindeswohlgefährdung ist in der familiengerichtlichen Praxis mit so viel negativen Emotionen aber auch häufiger Unsicherheit bei der Frage verbunden, ob getroffene Maßnahmen tatsächlich geeignet sind, der bestehenden Gefährdung entgegenzuwirken und wie sich die Lebenswelt des Kindes durch diese Maßnahme künftig bestimmt. Nicht selten wird allein das zu schützende Kind – statt des Schädigers – belastet und in seiner kindlichen Entwicklung eingeschränkt durch Maßnahmen, die seinem Schutz dienen sollen.
Dass zur kindlichen Entwicklung nicht nur der regelmäßige Kontakt mit Gleichaltrigen gehört, sondern auch die Nutzung neuester technischer Kommunikationsmittel, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Gerade die sich hieraus ergebenden uneingeschränkten Kontaktmöglichkeiten bergen jedoch in einem zunehmend unkontrollierbaren Datenaustausch ebenso nur noch schwer kontrollierbare und beherrschbare Gefahren für Kinder. Für Eltern ist es daher auch zunehmend schwieriger, nicht nur mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten, sondern auch – bei gleichzeitiger Vertrauenssicherung gegenüber dem Kind – mit dem notwendigen Fingerspitzengefühl eine Kontrolle darüber zu halten, mit wem und mit welchem Inhalt das Kind Daten austauscht.
Mit einem entsprechenden Sachverhalt hat sich das AG Bad Hersfeld umfassend in einer aktuellen Entscheidung auseinander gesetzt, in der es um die Frage ging, wie konkret ein Elternteil sexuellen Belästigungen der beiden Töchter mittels der Messenger-App „WhatsApp“ entgegenwirken kann bzw. welche konkreten Handlungen von den Eltern in dieser Situation zu verlangen sind. Das Gericht hat in seinem Beschluss dem betreuenden Vater Auflagen erteilt, durch die er nicht nur verpflichtet wurde, einen physisch-realen Kontakt des Belästigers zu den Kindern zu unterbinden, sondern auch jeglichen virtuellen Kontakt, indem er die auf Zwangsvernetzung beruhende App von den Smartphones zu entfernen und diesen abgesicherten Zustand mittels geeigneter Kontrollen der Geräte laufend aufrecht zu erhalten hatte. Daneben wurde er verpflichtet, in regelmäßigen Abständen mit den Kindern den aktuellen Stand der Smartphones zu besprechen und die Geräte gemeinsam mit seinen Töchtern auf gespeicherte Apps und etwaig auftretende Ungereimtheiten zu prüfen.
Die rechtliche Situation stellt sich so dar, dass nach § 1666 Abs. 1 BGB als ultima ratio Eingriffe in die Personensorge erfolgen können, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes nachhaltig gefährdet ist und die Eltern nicht willens oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Von einer Kindeswohlgefährdung im Sinn dieser Vorschrift ist auszugehen, wenn entweder die Gefahr bereits konkret besteht oder zumindest so nahe bevorsteht, dass eine erhebliche Schädigung des Kindeswohls mit ziemlicher Sicherheit voraussehbar ist. Neben den Fällen der tatsächlich missbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge ist vor allem das unverschuldete Versagen der Eltern von hoher praktischer Bedeutung. Der Entzug der Personensorge insgesamt oder in Teilbereichen kommt gleichwohl jedoch nur dann in Betracht, wenn andere niederschwelligere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder bereits zuverlässig abgeschätzt werden kann, dass sie zur Gefahrenabwehr nicht ausreichend sind. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit findet in diesem Kontext seine besondere Ausprägung. Die Gerichte haben bei der Auswahl der in Betracht kommenden Maßnahmen jeweils zu prüfen, ob diese zur Gefahrenabwehr geeignet, erforderlich und auch zumutbar sind. Erforderlich in diesem Sinn sind daher Maßnahmen nur dann, wenn aus den zur Zielerreichung geeigneten Maßnahmen das mildeste Mittel gewählt wird, das die geschützte Rechtsposition am wenigsten beeinträchtigt. Das Gesetz differenziert weitergehend danach, ob sich die zum Schutz des Kindes zu treffenden Maßnahmen gegen die sorgeberechtigten Eltern richten oder die Gefährdung von einem Dritten ausgeht. Sollen Maßnahmen gegenüber den Eltern selbst ergriffen werden, so werden in § 1666 Abs. 3 BGB konkrete Beispiele aufgelistet, durch die der Kindeswohlgefährdung begegnet werden kann, d.h. diese Beispiele präzisieren in gewisser Weise den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da sie dem Eingriff in die elterliche Sorge vorgelagert sind. Folgt demgegenüber die Kindeswohlgefährdung aus dem Verhalten eines Dritten, so sieht § 1666 Abs. 4 BGB vor, dass auch unmittelbar diesem gegenüber Schutzmaßnahmen veranlasst werden können. In dieser Konstellation ist ein doppelter Kindesschutz möglich. Einerseits haben die Eltern die Möglichkeit, gestützt auf das GewSchG, gerichtlichen Rechtsschutz einzufordern, etwa durch ein Näherungsverbot. Parallel wird zudem das Familiengericht von Amts wegen tätig und trifft die zur Abwehr der Gefährdung notwendigen Maßnahmen, die sich auf Ermahnungen, Verhaltensgebote und -verbote sowie auf Umgangsverbote richten können. Im äußersten Fall kann aber auch ein Wohnungswechsel angeordnet werden.
In der Praxisberatung ist es wichtig, Eltern die mit gerichtlichen Maßnahmen zum Schutz des Kindes konfrontiert werden, umfassend darüber aufzuklären, dass das gerichtliche Eingreifen auch als Chance für sie zu verstehen ist. Nur durch ein konstruktives Zusammenwirken von Eltern, Gericht und Jugendamt ist ein effektiver Kindesschutz zu gewährleisten, aber auch zu verhindern, dass weitere Eingriffe in das Elternrecht erforderlich werden.