Umgangsverweigerung ist Körperverletzung - oder: Warum der Kuss so wichtig ist
Die Teilnahme an juristischen Kongressen und Veranstaltungen lehrt und bildet ja bekanntlich. Letzteres förderte auf der Herbsttagung der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht im DAV vom 24. bis 26.11.2016 in Nürnberg Professor Dr. rer. nat., Dipl.-Ing. (Informatik/E-Technik) Peter Beyerlein, Professor und Leiter der Arbeitsgruppe Bioinformatik. Der Titel seines Vortrags "Neurobiologie und Kindeswohl – Viel mehr als Recht und Psychologie" weckt in Juristinnen und Juristen voyeuristische Erwartungseuphorie, Einblick in eine fremde naturwissenschaftliche Welt zu bekommen, der schon begrifflich kaum beizukommen ist und deren Begriffe, kaum dass sie entbeamt werden, dem Gedächtnis entschwinden.
Gleichwohl habe ich Folgendes behalten: Der Informationsaustausch zwischen Eltern und ihren Kindern ist nicht auf den Austausch ihres genetischen Materials bei der Zeugung und die anschließende intellektuelle, kulturelle und sprachliche Korrespondenz beschränkt. Die Neurobiologie kann vielmehr heute erklären, dass jeder Kuss, jeder Handschlag und jeder Körperkontakt ein Informationsaustausch ungeahnten Ausmaßes verursacht, dessen Resultat nicht auf die Psyche allein beschränkt bleibt, sondern unmittelbar die genetisch kodierte Funktion der Zellen beeinflusst. So kann die Wissenschaft nachweisen, dass Fehler im menschlichen Genom durch solch postnatalen Kontakte larviert („verdeckt“) und funktional repariert werden können, weil die bei den Eltern bereits erfolgte verhaltenskontrollierte Reparatur des Defekts an das Kind weitergegeben wird, nicht durch ‚Vererbung‘ sondern durch den bei jedem Körperkontakt über das Mikrobiom vermittelten Datenaustausch. Das funktioniert neurobiologisch allerdings nur beim Kontakt zwischen Kindern und ihren leiblichen Eltern, weil nur die Eltern neben einem genetischen Defekt auch das erfolgreiche Larvierungsmuster erworben haben. Stief- und Pflegeeltern versagen dabei, weil ihnen der zu larvierende genetische Defekt fehlt. Deswegen kam der Referent zu dem Schluss, dass die Verweigerung von Umgangskontakten zwischen Kindern und ihren leiblichen Eltern Körperverletzung am Kind sei.
Nach dem Genom-Project, das das menschliche Genom entschlüsselt, hat die Forschung das Human Brain Project in Angriff genommen. Darin wird das menschliche Hirn kartographiert und nachgewiesen, dass wir derzeit nur einen winzigen Bruchteil unseres intellektuellen Potentials nutzen und an welcher Stelle des Hirns das zu lokalisieren ist. Jetzt entzaubert die Neurobiologie unsere Vorstellung vom eigenverantwortlich handelnden ‚Freien Menschen‘ und führt Aggressivität, Duldsamkeit, Liebe und Sexualität, Faulheit und Dummheit auf biochemische Prozesse zurück, die in Formeln und chemischen Reaktionsketten ausgedrückt werden können.
Ist das das Ende der Autonomie? Natürlich nicht. Sie zu ermöglichen und zu fördern, sollten wir Familienrechtler aber vielleicht nicht allzu forsch Umgangskontakte verweigern und damit den Kindern die Möglichkeit nehmen, genetisch kodierte Defizite zu reparieren. Biochemisch gesprochen scheinen Umgangskontakte zwischen Eltern und Kindern letzteren zu helfen, Herr ihrer Defizite zu werden und damit tatsächlich autonom zu entscheiden.