18.07.2023

Blog-Update Haftungsrecht: Wirkung und Reichweite des Vertrauensgrundsatzes

Portrait von Prof. Dr. Reinhard Greger
Prof. Dr. Reinhard Greger

Im Verkehrsrecht wird häufig mit dem Vertrauensgrundsatz argumentiert. Was er besagt, ist klar: Wer sich im Straßenverkehr ordnungsgemäß verhält, darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer dies ebenfalls tun. Auf ein verkehrswidriges Verhalten braucht er sich erst dann einzustellen, wenn er Anhaltspunkte für ein solches erkennen kann.

Die Richtigkeit dieses in ständiger Rechtsprechung verfestigten Grundsatzes ist unbezweifelbar. Der Straßenverkehr käme zum Erliegen, wenn man sich jederzeit auf jedes denkbare Fehlverhalten Anderer einstellen müsste. Nicht so klar ist die dogmatische Einordnung dieses Rechtssatzes, und trefflich streiten lässt sich natürlich über seine Anwendung im Einzelfall. Die Kasuistik dazu ist unüberschaubar und soeben durch eine neue Entscheidung des BGH (Urt. v. 4.4.2023 – VI ZR 11/21 ) bereichert worden.

Zunächst zur rechtlichen Einordnung (die vor allem wegen der Beweislast relevant ist):

Der Grundsatz bestimmt die Sorgfaltsanforderungen an einen Verkehrsteilnehmer und damit bei der deliktischen Haftung den Maßstab der Fahrlässigkeit i.S.v. § 823 Abs. 1, § 276 Abs. 2 BGB. Für die Beweisführung bedeutet dies, dass der für das Verschulden des Schädigers beweispflichtige Geschädigte beweisen muss, jener hätte mit seinem verkehrswidrigen Verhalten rechnen müssen. Bei Kfz-Unfällen muss der Fahrzeugführer beweisen, dass ihn kein Verschulden trifft (§ 18 StVG), d.h. dass er nicht mit dem verkehrswidrigen Verhalten des Geschädigten zu rechnen brauchte. Bei der verschuldensunabhängigen Haftung des Kfz-Halters kommt der Vertrauensgrundsatz aber ebenfalls ins Spiel: Dem Halter eines anderen Kfz gegenüber kann der Halter des unfallverursachenden Fahrzeugs ihn zum Beweis dafür heranziehen, dass der Fahrzeugführer dem gesteigerten Sorgfaltserfordernis des Unabwendbarkeitsbeweises nach § 17 Abs. 3 StVG genügt hat. Und im Verhältnis zu einem nichtmotorisierten Geschädigten schließlich kann der Vertrauensgrundsatz nur als Element der Mitverschuldensabwägung nach § 9 StVG, § 254 BGB zum Tragen kommen.

In dem vom BGH jüngst entschiedenen Fall war ein Fußgänger beim Überqueren einer innerstädtischen Straße mit zwei durch eine Mittellinie getrennten Fahrstreifen auf dem für ihn jenseits der Mittellinie liegenden Fahrstreifen von einem Pkw angefahren worden. Er verklagte dessen Fahrer und den Haftpflichtversicherer auf hälftigen Schadensersatz, aber diese lehnten unter Berufung auf den Vertrauensgrundsatz jede Haftung ab: Der Pkw-Fahrer habe nicht damit zu rechnen brauchen, dass der Geschädigte über die Fahrbahn läuft, ohne auf den herannahenden Verkehr zu achten, und als er dessen verkehrswidriges Verhalten erkennen konnte, sei es für eine Verhinderung der Kollision zu spät gewesen.

LG und KG gaben den Beklagten Recht. Der Pkw-Fahrer habe darauf vertrauen dürfen, dass der Fußgänger an der Mittellinie stehen bleibt. Den Fahrer treffe daher kein Verschulden; deshalb trete auch die Haftung aus Betriebsgefahr hinter dem groben Eigenverschulden des Fußgängers zurück.

Nach Ansicht des BGH haben die Vorinstanzen damit jedoch den falschen Bezugspunkt für den Vertrauensgrundsatz gewählt: Es komme nicht auf das Verhalten des Fußgängers an der Mittellinie, sondern auf die Gesamtsituation an. Da der Fußgänger nach den tatrichterlichen Feststellungen die Fahrbahn rennend überquert hat, hätte der Pkw-Fahrer nicht mit einem Stehenbleiben an der Mittellinie rechnen dürfen. Es müsse also festgestellt werden, ob und ggf. ab wann der Fahrer das gefährdende Verhalten des  Fußgänger hätte erkennen und ob er dann noch unfallvermeidend hätte reagieren können.

Nun könnte man zwar darüber diskutieren, ob den im innerstädtischen Verkehr über die Fahrbahn rennenden Fußgänger nicht ein so hohes Eigenverschulden trifft, dass es gerechter Abwägung entspricht, ihm die alleinige Haftung zuzuweisen. Der Fall lehrt aber, dass der Vertrauensgrundsatz nicht von einer möglichst umfassenden Feststellung des Unfallhergangs entbindet und, falls diese nicht möglich ist, die oben angeführten Beweisregeln anzuwenden sind.

Umfassende Rechtsprechungsnachweise zum Vertrauensgrundsatz: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 14.229 ff zu Fußgängerunfällen, Rz. 14.171 ff zu Vorfahrtunfällen.

 

Mehr zum Autor: Prof. Dr. Reinhard Greger ist Mitverfasser des Werks Haftung im Straßenverkehr

 

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