16.07.2023

Montagsblog: Neues vom BGH

Portrait von Dr. Klaus Bacher
Dr. Klaus Bacher Vorsitzender Richter am BGH

Diese Woche geht es um die Bemessung des Hinterbliebenengeldes.

Bemessung des Hinterbliebenengeldes nach einem Verkehrsunfall BGH, Urteil vom 23. Mai 2023 – VI ZR 161/22

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit grundlegenden Fragen zur Bemessung des Hinterbliebenengeldes nach § 10 Abs. 3 StVG.

Bei einem Verkehrsunfall im September 2020 wurde der Vater der im Juni 2001 geborenen Klägerin getötet. Die volle Haftung der Beklagten zu 1, die mit ihrem Auto in einer Kurve auf die Gegenfahrbahn geraten war und den auf seinem Motorrad entgegenkommenden Vater der Klägerin frontal erfasst hatte, steht dem Grunde nach außer Streit. Die Beklagte zu 2, bei der das Auto haftpflichtversichert war, hat der Klägerin außergerichtlich ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 7.500 Euro gezahlt. Die auf Zahlung weiterer 22.500 Euro gerichtete Klage ist in den beiden ersten Instanzen nur in Höhe von 4.500 Euro erfolgreich gewesen.

Die Revision der Klägerin hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.

Die Bemessung der nach § 18 Abs. 1 Satz 1 und § 10 Abs. 3 StVG geschuldeten Hinterbliebenenentschädigung unterliegt gemäß § 287 ZPO dem Ermessen des Tatrichters. Nicht alle vom OLG angestellten Erwägungen sind jedoch frei von Rechtsfehlern.

Bei der Bemessung ist die konkrete seelische Beeinträchtigung des Betroffenen zu bewerten. Hierbei sind alle Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Dennoch ist es nicht zu beanstanden, den in den Gesetzesmaterialien (BT-Dr. 18/11397 S. 11) genannten Betrag von 10.000 Euro als Orientierungshilfe heranzuziehen.

Wie der BGH schon zuvor entschieden hat (Urteil vom 6. Dezember 2022 – VI ZR 73/21, BGHZ 235, 254 Rn. 14 f. [insoweit nicht in MDR 2023, 295]), dient das Hinterbliebenengeld dem Ausgleich für immaterielle Nachteile. Maßgeblich sind insbesondere die Intensität und die Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Relevante Indizien bilden in der Regel die Art des Näheverhältnisses, die Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und die Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung.

Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht danach die wirtschaftliche Abhängigkeit der Beklagten von ihrem Vater aufgrund eines kurz nach dem Unfall aufgenommenen Studiums nicht als erhöhenden Faktor herangezogen. Der Verlust von Unterhaltsansprüchen stellt einen materiellen Schaden dar, der nach Maßgabe von § 10 Abs. 2 StVG zu ersetzen ist.

Ebenfalls nicht zu beanstanden ist, dass das OLG sich nicht mit dem Grad des Verschuldens befasst hat. Dem insoweit maßgeblichen Parteivortrag lässt sich nicht entnehmen, dass das Maß des Verschuldens im Streitfall prägende Wirkung hat. Dass die Beklagte ihre strafrechtliche Verantwortung abgestritten hat, rechtfertigt eine Erhöhung des Hinterbliebenengeldes für sich gesehen nicht.

Zu Unrecht hat das OLG jedoch den Vortrag der Klägerin zu den Auswirkungen des Unfalltods auf deren autistischen Bruder als unerheblich angesehen.

Nach dem Vorbringen der Klägerin war der verstorbene Vater die maßgebliche Respekts- und Bezugsperson für den Bruder. Der Tod des Vaters habe zur Folge, dass die Klägerin nunmehr in erheblichem Umfang in die Betreuung ihres Bruders eingespannt sei, der aufgrund des Todesfalls massive Verhaltensauffälligkeiten zeige. Auch durch diesen Umstand werde die Klägerin täglich mit dem plötzlichen Unfalltod des Vaters und der damit verbundenen Veränderung ihrer Lebenssituation konfrontiert. Der dadurch andauernde seelische Schmerz sei nahezu unerträglich.

Damit sind entgegen der Auffassung des OLG Umstände vorgetragen, die nicht nur die Intensität und Dauer des seelischen Leids des Bruders betreffen, sondern auch desjenigen der Klägerin. Das OLG wird deshalb zu prüfen haben, ob und ggf. in welcher Höhe diese Umstände die Zubilligung eines höheren Hinterbliebenengeldes gebieten.

Praxistipp: Die Vorschriften über das Hinterbliebenengeld (u.a. § 844 Abs. 3 BGB, § 10 Abs. 3 StVG und § 5 Abs. 3 HaftPflG) sind gemäß Art. 229 § 43 EGBGB anwendbar, wenn die zum Tode führende Verletzung nach dem 22. Juli 2017 eingetreten ist.

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