Montagsblog: Neues vom BGH
Diese Woche geht es um die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts in Bezug auf Tatsachen.
Überprüfung von Tatsachenfeststellungen in der Berufungsinstanz BGH, Beschluss vom 8. August 2023 – VIII ZR 20/23
Der VIII. Zivilsenat bekräftigt die ständige Rechtsprechung zu § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
Der Klägerin hatte ein aus zwei Gebäudeteilen bestehendes Wohnhaus mit einer Gesamtwohnfläche von 410 m² seit Ende 2018 an die Beklagten vermietet. Anfang 2021 verwehrten ihr die Beklagten eine Besichtigung des Objekts durch einen mit dem Verkauf des Objekts betrauten Makler. Im August 2021 kündigte die Klägerin wegen Eigenbedarfs für sich und ihre zwei erwachsenen Söhne mit deren Familien. Die Beklagten widersprachen der Kündigung.
Das AG verurteilte die Beklagten nach Vernehmung der beiden Söhne der Klägerin antragsgemäß zur Räumung und Herausgabe des Anwesens. Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos.
Der BGH verweist die Sache auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten durch Beschluss gemäß § 544 Abs. 9 und § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO an eine andere Kammer des LG zurück.
Das LG hat angenommen, die Beweiswürdigung durch das AG sei gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bindend, weil ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche nicht erkennbar seien.
Darin liegt eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG, weil das LG seine Prüfungskompetenz nicht im gebotenen Umfang wahrgenommen hat.
Die Prüfung in der Berufungsinstanz ist anders als die revisionsrechtliche Prüfung nicht auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Das Berufungsgericht ist deshalb zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet, wenn aus seiner Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird.
Im Streitfall hätte sich das LG danach zumindest mit der Frage befassen müssen, ob in der Berufungsbegründung geltend gemachte Widersprüche in den Angaben der Zeugen und der Klägerin zum zeitlichen Ablauf bezüglich der Aufgabe von ursprünglichen Verkaufsabsichten und dem Entschluss zur Eigennutzung die Wahrscheinlichkeit einer abweichenden Feststellung begründen. Diese Würdigung wird die nunmehr mit der Sache befasste Kammer nachzuholen haben.
Praxistipp: Der Berufungskläger muss in der Berufungsbegründung die Umstände, die aus seiner Sicht eine abweichende Feststellung gebieten, möglichst konkret benennen.