26.10.2021

OLG Schleswig zu einem „Doppelurteil“

Portrait von Dr. Frank O. Fischer
Dr. Frank O. Fischer Richter am Amtsgericht

Mit einer nicht alltäglichen Fallkonstellation hatte sich das OLG Schleswig (Beschl. v. 23.6.2021 – 5 U 58/21) zu befassen. Dieser Fall zeigt wieder einmal, was so alles in der Praxis an Merkwürdigkeiten passieren kann, nicht zuletzt aufgrund der teilweise enormen Überlastung der Gerichte bzw. der Richterinnen und Richter.

Nach einer mündlichen Verhandlung kündigte das LG letztlich eine Entscheidung in einem Verkündungstermin am 12.5.2020 an. In der Verfahrensakte befindet sich denn auch ein ordnungsgemäßes Verkündungsprotokoll von diesem Tage sowie ein Urteil mit klageabweisendem Tenor, das auch den Eingangsstempel der Geschäftsstelle trägt. Tatbestand und Entscheidungsgründe für dieses Urteil wurden allerdings nicht mehr angefertigt. Weder das Urteil noch das Protokoll wurden an die Parteien zugestellt oder übermittelt.

Im November 2020 wies das LG dann daraufhin, dass die Akte im richterlichen Bereich „außer Kontrolle“ geraten sei und regte eine Zustimmung der Parteien zum schriftlichen Verfahren an (§ 128 ZPO). Nachdem diese einging, ordnete das LG das schriftliche Verfahren an und erließ später (erneut) ein klageabweisendes Urteil, dieses Mal mit Tatbestand und Entscheidungsgründen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin, die von dem OLG Schleswig für unbegründet gehalten wird. Für die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien ist und bleibt nämlich das erste Urteil maßgeblich. Danach steht die Unbegründetheit der Klageforderung bereits rechtskräftig fest! Das erste Urteil wurde ordnungsgemäß verkündet. Nach ständiger Rechtsprechung ändert das Fehlen des Tatbestandes sowie der Entscheidungsgründe daran nichts. Die Fünfmonatsfrist (§ 517 Alt. 2 ZPO) beginnt einen Monat nach der Verkündung der Entscheidung unabhängig davon, ob diese den Parteien mitgeteilt wurde. Auch dies ist ständige Rechtsprechung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kommt bestenfalls dann in Betracht, wenn die Parteien nicht mit dem Erlass eines Urteils rechnen mussten. Hier hatte aber das Gericht einen Verkündungstermin bestimmt. Deswegen musste auch mit dem Erlass eines Urteils gerechnet werden. Eine Wiedereinsetzung in die Frist zur Versäumung der Berufungsfrist gegen das erste Urteil kommt nicht in Betracht, da sich die Klägerin jedenfalls hätte erkundigen müssen, was bei dem Verkündungstermin herausgekommen war. Die fehlerhafte weitere Verfahrensweise des LG vermag daran nichts zu ändern.

Die Klägerin hat damit den Prozess endgültig verloren. Sie könnte allerdings unter Umständen ihren Rechtsanwalt dafür verantwortlich machen, dass er die Sechsmonatsfrist nicht notiert hatte! Hieran sollte jeder Rechtsanwalt denken, und zwar bereits dann, wenn er von dem Termin zurück in die Kanzlei kommt. Denn: Wann das Protokoll bzw. die Entscheidung eingehen wird, weiß man nicht, es kann auch alles verloren gehen oder – wie hier – schlichtweg beim Gericht „untergehen“.

Der Tenor des Urteils des OLG allerdings dürfte jedoch unrichtig sein! Da das erste Urteil rechtskräftig ist, hätte wohl das zweite Urteil vielmehr aufgehoben und die Klage als unzulässig abgewiesen werden müssen. In der Sache hätte dies jedoch nichts geändert. Der Anspruch ist rechtskräftig aberkannt.

Dem lässt sich übrigen nicht entgegenhalten, dass ein Urteil ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe keine Rechtskraft entfalten könnte. Im Zweifel ist zur Bestimmung der Grenzen der Rechtskraft des ergangenen Urteils (wie bei Anerkenntnis-, Verzichts-, oder Versäumnisurteilen, die keine Begründung enthalten) das Parteivorbringen heranzuziehen. Da die Gerichtsakten nicht ewig aufgehoben werden, empfiehlt es sich für die betroffene Partei, die Handakte lange zu behalten!

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