Aus dem Lot geratene Verträge - Alles nur Verhandlungssache?
Der aktuellen Covid-19-Pandemie etwas Positives abzugewinnen, ist ein Versuch, der angesichts gravierendster gesundheitlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Folgen grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sein wird. Vielfach wurde schon bemerkt, dass die derzeitige pandemische Lage eines allerdings schon bewirken kann – nämlich den Blick zu schärfen, was in unserem Gemeinwesen gut funktioniert und wo es dringenden Verbesserungsbedarf gibt. Dies gilt auch für das deutsche Zivil- und Vertragsrecht. Unbestritten ist die bundesdeutsche Rechtslandschaft geprägt durch ein bewährtes Zivilrechtssystem mit einer in Summe gut funktionierenden, unabhängigen Gerichtsbarkeit. Das Bürgerliche Gesetzbuch gewährleistet die auf dem Prinzip der Privatautonomie beruhende Vertragsfreiheit und bringt diese durch den Grundsatz „pacta sunt servanda“ in ausgewogener Form mit dem Gebot der Rechtssicherheit in Einklang. Im Rahmen bestehender Gesetze sind die Parteien frei, vertragliche Regelungen jedweder Art zu vereinbaren. Ist der Vertrag einmal unterzeichnet, sind beide Seiten rechtlich an dessen Inhalt gebunden. Solange Einvernehmlichkeit über spätere Änderungen besteht, beinhaltet und fordert die Privatautonomie daneben auch die Zulässigkeit späterer konsensualer Vertragsänderungen und -anpassungen.
So weit, so gut also? Grundsätzlich ohne Zweifel ja. Was aber, wenn die äußeren Rahmenbedingungen sich plötzlich und unvermittelt gravierend ändern und das ursprünglich ausgehandelte Gleichgewicht vertraglicher Leistungen und Gegenleistungen derart aus dem Lot gerät, dass ein Festhalten an der vertraglichen Grundlage eine oder beide Vertragsparteien unverschuldet und unvorhersehbar vor massive, unter Umständen sogar wirtschaftlich existenzielle Probleme stellt? Schlagartig rücken damit übergeordnete Fragen in den Mittelpunkt, die im „normalen Geschäftsbetrieb“ keine Rolle spielen: Enthält der Vertrag geeignete Klauseln, die Raum für eine beide Seiten zufriedenstellende Anpassung bieten? Wenn dies nicht der Fall ist, wie kann die betroffene Partei ihr Gegenüber dazu bewegen, in entsprechende Gespräche und Verhandlungen einzutreten? Kann ein solcher Verhandlungswunsch unter Berufung auf gesetzliche Regelungen durchgesetzt werden oder droht schlicht der unveränderte Vollzug des Vertrages – etwa dessen Kündigung bei vorübergehenden Zahlungsschwierigkeiten? Schließlich: Besteht das deutsche Zivilrecht, das sich in geordneten Verhältnissen bestens bewährt hat, auch einen solchen Stresstest?
Die letztgenannte Frage wurde laut und deutlich mit „Nein“ beantwortet, und zwar vom Gesetzgeber selbst: Der Erkenntnis folgend, dass außergewöhnliche Umstände – vorliegend die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie – außergewöhnliche legislative Maßnahmen erfordern, wurden insbesondere mit dem sog. Covid-19-Gesetz (BGBl. I, 569 ff.) zahlreiche zeitlich befristete Korrekturen umgesetzt. Neben der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und des Insolvenzantragsrechts sind hier insbesondere die Leistungsverweigerungsrechte von Schuldnern zu nennen, die im Rahmen von Miet- und Pachtverhältnissen sowie bei Verbraucherdarlehensverträgen dann vor einer Vertragskündigung wegen Zahlungsverzuges geschützt werden, wenn sie wegen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllen können.
Das alles macht Sinn und soll hier keinesfalls kritisiert werden. Dennoch bleibt eine Frage an den Gesetzgeber offen: Wäre es nicht eine erwägenswerte Option, anstelle einzelfallbezogener gesetzlicher Regelungspakete die Privat- und Vertragsautonomie generell zu stärken und den Parteien im Falle „eskalierter Rahmenbedingungen“ in verstärktem Maße rechtliche Ansprüche auf zu führende Nachverhandlungen einzuräumen? Das deutsche Zivilrecht sieht Nachverhandlungsansprüche nur in eng begrenzten Ausnahmefällen vor, wie etwa im Rahmen von § 313 BGB, im privaten Baurecht und in einigen gesellschaftsrechtlichen Konstellationen (siehe hierzu Lüttringhaus, AcP 213 (2013), 266, 268 ff. m.w.N.) Die Scheu des Gesetzgebers, in stärkerem Maße Rechtsansprüche auf zu führende Nachverhandlungen zu statuieren, mag ihre Ursache in der Sorge haben, die Verbindlichkeit abgeschlossener Verträge und damit den Aspekt der Rechtssicherheit zu relativieren. Berechtigt wäre diese Sorge indessen nicht: Zum einen könnte eine Stärkung von Nachverhandlungsansprüchen per se auf Ausnahmebestände der hier beschriebenen Art fokussiert und begrenzt werden – etwa durch Modifikationen bereits vorhandener Rechtsinstitute wie der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) oder durch Etablierung eines gesetzlich geregelten Tatbestandes der Höheren Gewalt; vor allem aber wäre bei sachgerechter Umsetzung kein Zielkonflikt zwischen der Rechtssicherheit einerseits und der Privat- und Vertragsautonomie andererseits zu befürchten. Im Gegenteil: Den Vertragsparteien einen Rechtsanspruch auf Nachverhandlungen einzuräumen, eröffnet eine zusätzliche Option, denjenigen, die ihren Konflikt und die nachgelagerten Interessenlagen so gut wie kein Dritter kennen – den Parteien selbst – selbstbestimmt eine einvernehmliche Lösung ihrer Differenzen zu finden. Gelingt dies, sind die Vorteile evident: Bestehende Geschäfts- und Vertragsbeziehungen bleiben zu angepassten Bedingungen erhalten (oder werden durch den geführten Beweis ihrer „Krisenbeständigkeit“ sogar gestärkt), der Rechtsfriede wird gefestigt und die – gerade in Krisenzeiten oftmals stark beanspruchte – Gerichtsbarkeit wird entlastet. Zudem gäbe es einen nicht zu vernachlässigenden sozialen Effekt: Auch wirtschaftliche schwächeren Parteien, denen es ohne einen unterstützenden Rechtsanspruch nicht gelänge, ihr Gegenüber zum Gang an den Verhandlungstisch zu motivieren, würden die vorgenannten Chancen eröffnet.
Schon dies wäre ein großer Fortschritt gegenüber dem Status Quo und man möchte dem Gesetzgeber auf gut (neu)deutsch zurufen: Just do it! Was bleibt, um gesetzgeberisch „lege artis“ zu handeln und eine größtmögliche Effizienz der Umsetzung zu gewährleisten, ist, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass die zu führenden Verhandlungen so sachgerecht, interessenorientiert und zielführend wie möglich geführt werden können. Den vielfachen Nutzen zu schildern, den das Einbringen mediativer Elemente in diese Verhandlungen bringen könnte, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Einen etwas vertieften Debattenbeitrag können Sie aktuell in der ZKM nachlesen (siehe Teil 1: ZKM 6/2020, 204 ff., Teil 2: ZKM 1/2021, 4 ff. ).
Hinweis: Klowait, Nachverhandlung(spflicht) bei eskalierten Rahmenbedingungen - Teil 2, ZKM 1/2021, 4 ff., frei abrufbar im Rahmen eines kostenlosen Probeabos oder als Download.