Vorhersehbar irrational – souveräne Mediation durch Entlarvung falscher Menschenbilder
Es braucht keine Mediationsausbildung, um zu wissen, dass sich Konfliktakteure oft irrational verhalten. Die krasseste Ausprägung zeigt sich in Stufe 9 des Glasl‘schen Eskalationsmodell: Kamikaze, also die Vernichtung des Anderen auch unter Inkaufnahme von massiver Selbstschädigung ist ganz offensichtlich eine unvernünftige Entscheidung. Doch auch in weniger eskalierten Konflikten sind die typischen durch die Konfliktdynamik ausgelösten Kommunikationsblockaden und Entscheidungsfallen zu beobachten, die in dem heute noch lesenswerten Tagungsband zur 1991er Tagung des Stanford Center on Conflict and Negotiation wunderbar zusammengetragen wurden (Arrow/Mnookin et al. – Barriers to Conflict Resolution, New York/London, 1995). So weit, so Konsens.
Manche Mediatoren (und wir juristischen Mediatoren sind aufgrund unserer Enkulturation besonders prädestiniert für diese Auffassung) neigen jedoch dazu, diesen irrationalen Zustand alleine der Konfliktbeteiligung zuzuschreiben. Dahinter steckt ein Menschenbild, nach dem Menschen normalerweise rational entscheiden, dies mindestens soweit wie möglich anstreben sollten, und nach dem vernünftige Argumente normalerweise überzeugen sollten. Das Menschenbild ist deshalb wichtig, weil wir unsere Strategien aufgrund unserer mentalen „Landkarten“ der Welt (Beliefs) entwickeln. Je realitätsnäher das Menschenbild, desto besser ist also die Prognosekraft unserer Modelle und desto effektiver wirken unsere Strategien.
Ein Mediator, der die Irrationalität nur dem Konflikt zuschreibt, ist in großer Versuchung, sich selbst als neutralen Dritten für einen rationalen Entscheider zu halten (man ist ja schließlich als Nicht-Beteiligter nicht von den Konfliktphänomenen okkupiert) – und alles dafür zu tun, den Medianden zu helfen, schnell wieder in einen Zustand zurück zu gelangen, in dem ihnen wieder der Zugang zu rationalen Entscheidungen (z.B. über eine vernünftige Konfliktlösung) möglich ist. Dahinter steckt oft die uns seit Jahrtausenden vermittelte Einstellung, die Ratio sei „der höchste Denkmodus“ (Immanuel Kant) und Emotionen seien „Ablenkung auf dem Weg zur Wahrheit“ (Platon). Unglücklicherweise ist die These vom Menschen als rationalem Entscheider inzwischen wissenschaftlich genauso gut belegt wie die These der materiellen Existenz des Osterhasen.
Die zeitgenössische Gehirnforschung hat längst gezeigt, dass Menschen gar nicht in der Lage sind, rein rational zu entscheiden. So berichtet Antonio Damásio von einem Juristen („Fall Elliott“), der in Folge einer Operation bei gleichbleibend hohem IQ komplett die Fähigkeit verliert, seine Emotionen wahrzunehmen. Die Folge: Er wird lebensuntauglich und ist nicht mal mehr in der Lage, einfachste Entscheidungen zu treffen. Für manche von uns mag das eine unangenehme Einsicht sein, aber sie ist sehr gut belegt: Unsere Emotionalität und unser Unbewusstes ist immer an unseren Entscheidungen beteiligt – und das ist auch gut so. (zum Stand der Wissenschaft vgl. Kast, Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft, Frankfurt a.M., 2013).
Im letzten Jahr wurde der Wirtschaftsnobelpreis an Richard Thaler vergeben, der in seinen jahrzehntelangen Forschungen immer mehr eine These bewiesen hat, die er in seiner Vorlesung zur Nobelpreisverleihung (sehr sehenswert: https://www.youtube.com/watch?v=tD_5MgjIr00) auf die Formel brachte: Wir Menschen sind „Less like Spock and more like Homer Simpson“). Wir handeln emotional, treffen unvernünftige Entscheidungen und Selbstkontrolle und Selbstdisziplin sind bei uns generell nicht besonders perfekt entwickelt. Die Erkenntnis ist deshalb bedeutend, weil wir auf der Grundlage von Menschenbildern, die dem real existierenden Menschen entsprechen, bessere Modelle und Strategien entwickeln können als auf der Grundlage von unerreichbaren Idealbildern wie dem homo oeconomicus.
Wenn wir die menschlichen Irrationalitäten in unser Modell einpassen wollen, empfiehlt sich für Mediatoren ein besonderer Blick auf die Framing-Forschung. Der Begriff „Framing“ wurde zuerst 1974 von dem amerikanischen Soziologen Erving Goffmann geprägt. In seiner Frame Analysis beschreibt er, dass wir Menschen Situationen dadurch Bedeutung geben, dass wir den – größtenteils unbewussten – psychologischen Rahmen bei der Interpretation berücksichtigen. Amos Tversky und Daniel Kahneman (Wirtschaftsnobelpreis 2002) übernahmen diesen Begriff dann 1981 und bezeichneten damit das von Ihnen erforschte Phänomen, dass Entscheidungen nicht nur von der Substanz der zur Wahl stehenden Optionen, sondern ganz wesentlich auch von der Formulierung abhängen, mit der Wahloptionen Entscheidern präsentiert werden. Sie konnten zeigen, dass die kommunikative „Verpackung“ die Wahlentscheidung auf vielfältige Weise wesentlich beeinflussen kann.
35 Jahre später ist die verhaltensökonomische und neurowissenschaftliche Forschung einen gewaltigen Schritt weiter und hat eine Vielzahl von Framing-Effekten identifizieren können. Manche davon sind bereits in der Mediationsszene bekannt (z.B. die Tatsache, dass die Beurteilung einer angemessenen Haftstrafe durch einen erfahrenen deutschen Strafrichter durch einen vorherigen Würfelwurf signifikant beeinflusst werden kann). Andere sind weitgehend unbekannt (z.B. die Tatsache, dass Sie die Zahlungsbereitschaft eines Medianden beeinflussen können, wenn Sie erzählen, dass Sie gestern im Stadion mit 60.000 Zuschauern das Spiel gesehen haben) oder nur eingeweihten Experten für Neuromarketing ein Begriff (z.B. die Zahlenpsychologie – der wahrgenommene Wert einer Zahl ist nicht objektiv, sondern z.B. davon abhängig, wo und in welcher Farbe und Größe sie auf einem Papier notiert wird). Alle diese Framing-Effekte üben einen mächtigen Einfluss auf Entscheidungen von Menschen aus – meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.
Als professioneller Mediator sollte man sich dafür interessieren. Erstens haben professionelle Mediatoren üblicherweise den Anspruch, ihre Kommunikation kontrolliert und zielorientiert zu gestalten und unabsichtliche Wirkungsphänomene soweit möglich zu vermeiden. Zweitens sind viele der Framing-Effekte nicht vermeidbar. Dies habe ich durch Verformung eines berühmten Watzlawick-Zitates auf die Formel gebracht: Man kann nicht nicht framen! Wenn Framing also unvermeidbar ist, dann sollte es wenigstens zum eigenen Mediationsprogramm passen. Wie gesagt: Es spricht viel dafür, sich das als Mediator einmal ganz genau anzuschauen und sich seine Gedanken zu machen.
Ich habe dazu im letzten Jahr ein halbjähriges Forschungsprojekt gestartet und den aktuellen Stand der Wissenschaft zusammengetragen und in ein wissenschaftlich fundiertes Framing-Modell übertragen. Dies versetzt Sie jetzt in die Lage, mit deutlich geringerem Aufwand sich ebenfalls für dieses Thema zu interessieren: Beginnend mit der August-Ausgabe werde ich in der ZKM (zum kostenlosen Probeabo geht es hier) in einer dreiteiligen Aufsatzserie die wichtigsten Framing-Effekte vorstellen – und die Auswirkungen auf ein professionelles Mediationsverständnis diskutieren. Und: Framing ist keine Glaubensfrage, sondern Wissenschaft. Und weil manche Befunde wirklich unglaublich sind, habe ich die Originalstudien zitiert, damit Sie der Sache ganz genau auf den Grund gehen können.