Ukraine-Krieg: Derzeit keine Verhandlungslösung in Sicht
Vor rund 400 Teilnehmern diskutierten am 26.2.2022 und damit genau vier Monate nach Kriegsbeginn in der Ukraine Sokrates-Preisträger und Konfliktforscher Prof. Dr. Friedrich Glasl und Psychiater Prof. Dr. Fritz P. Simon über die Aussichten einer raschen Beendigung des Ukraine-Kriegs. Moderiert wurde die Diskussion von Gesine Otto und Andreas Winheller, beide erfahrene Konflikt- und Verhandlungsexperten.
Sowohl Glasl als auch Simon halten die Lieferung von Waffen seitens der NATO an die Ukraine für erforderlich, damit sich die schwächere Kriegspartei auf ihrem Territorium selbst verteidigen kann. Auch waren sich die Diskutanten darin einig, dass der Krieg in Wahrheit nicht zwischen der Ukraine und Russland, sondern zwischen den NATO-Staaten und Russland geführt wird.
Unterschiedlich war allerdings die Einschätzung, welche realistischen Möglichkeiten bestehen, eine Verhandlungslösung zu erzielen. Glasl sieht die Chance darin, dass neutrale Staaten wie Österreich oder die Schweiz und im Grunde genommen die gesamte restliche Welt, die unter den globalen ökonomischen, ökologischen und sozialen Katastrophen des Krieges leiden, Druck auf die unmittelbaren Kriegsparteien ausüben, an den Verhandlungstisch zu treten. Simon dagegen sieht dafür derzeit weit und breit keinen Friedensinitiator, der genügend Macht und Autorität hätte, dieses Ziel zu erreichen. Erst dann, wenn eine Pattsituation eintritt und beide Parteien kriegsmüde werden, weil sie erkennen, dass keine Seite gewinnen kann, sei die Chance da, einen „erzwungenen“ Frieden auszuhandeln. Dann besteht die Gefahr, dass der Konflikt weiter schwelen würde und sich irgendwann wieder ausbreiten könnte – der Balkankrieg hat es gezeigt.
Während Glasl die Chance sieht, dass sich neutrale Staaten zusammenschließen und die Kriegsparteien dazu bewegen, sich an den Verhandlungstisch zu begeben, sieht Simon hierzu derzeit keine Chance. Seiner Ansicht nach fehlt es dazu an der entsprechenden Macht und Einflussgröße der in Betracht kommenden Staaten. Die UNO sei auf einen reinen Beobachterstatus reduziert, China stehe auf Seiten Russlands und die in erster Linie betroffene Dritte Welt habe zu wenig Einfluss.
Glasl plädiert dagegen für ein Angebotsverhandeln nach dem Grit-Modell, das 1986 Michael Gorbatschow erfolgreich anwendete, um Ronald Reagan zu Abrüstungsverhandlungen zu animieren. Simon hält eine solche Abrüstungs- bzw. Friedensinitiative seitens Putins für nahezu ausgeschlossen. Putin sei geradezu der Anti-Gorbatschow, der die alte Sowjetunion wieder herstellen wolle, die Gorbatschow aufgegeben habe.
Glasl appellierte im Verlauf des Diskurses immer wieder, die „Windows of Opportunities“ zu erkennen und daraus Verhandlungsansätze zu entwickeln. Ein Window of Opportunity sieht er etwa darin, dass China gegen die Russland-Beschlüsse der UNO kein Veto eingelegt, sondern sich „nur“ enthalten habe. Gleichwohl sieht Glasl die größten Chancen für ein Verhandlungsangebot auf Seiten der NATO. Simon bewegt vor allem die Gefahr der Eskalation, obwohl sich derzeit beide Seiten darum bemühten, die Gewalt einzugrenzen. Es sei im Grunde genommen paradox, das eigene Land zu verteidigen – aber nicht so, dass es eskaliert. Insoweit sei es auch für die NATO schwer, der Ukraine nur die Waffen zu liefern, die eine Ausweitung der Gewalt verhindert. Im Übrigen bestehe die Gefahr, dass eine Kriegspartei das Bemühen um Deeskalation fehlinterpretiere und als gesteigerte Aggression werte.
Bei allem bleibt für den Westen die Hoffnung, dass derzeit beide Seiten den Konflikt nicht weiter eskalieren wollen – so deuten jedenfalls Glasl und Simon die derzeitige Lage.
Ein Video des virtuellen Diskurses ist auf YouTube abrufbar: www.youtube.com/watch?v=2vpNVQiQeSw