Auch zehnstündige Bahnfahrt lässt Arbeitsunfähigkeit nicht fragwürdig erscheinen
LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 13.7.2023 - 5 Sa 1/23
Der Sachverhalt:
Der Kläger war bei der Beklagten als Chefarzt für die orthopädische Abteilung angestellt. Er unterhielt während der Zeit eine Zweitwohnung in der Nähe der Arbeitsstätte; der Familienwohnsitz befindet sich ca. 1.000 km entfernt in Süddeutschland. Am 16.8.2021 kündigte der Kläger das Arbeitsverhältnis innerhalb der arbeitsvertraglich vereinbarten Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Monatsende zum 28.2.2022. In dem Zeitraum nach Ausspruch der Kündigung war der Kläger bis zum 2.2.2022 an insgesamt an 48 Kalendertagen arbeitsunfähig.
Am Dienstagnachmittag, 8.2.2022, sagte der Kläger die Teilnahme an einer regelmäßig stattfindenden Dienstbesprechung aus gesundheitlichen Gründen ab. Am darauffolgenden Tag meldete er sich bei der Beklagten krank und fuhr mit der Bahn rund zehn Stunden zu seinem Familienwohnsitz. Am Donnerstag, 10.2.2022, stellte die behandelnde Ärztin dem Kläger eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum 9.2. bis 21.2.2022 aus. Ab dem 22.2.2022 trat der Kläger seinen bereits zuvor abgestimmten Resturlaub an. Am 1.3.2022 nahm er in einer anderen Reha-Klinik eine neue Beschäftigung als Oberarzt auf.
Die Beklagte hat die Krankschreibung des Klägers vom 9.2. bis 21.2.2022 angezweifelt und seinen Lohn einbehalten. Sie war der Ansicht, wenn er krank gewesen wäre, hätte er nicht zehn Stunden Bahn fahren können. Auffällig sei zudem das pünktliche Ende der Erkrankung zum Beginn des Urlaubs.
Das Arbeitsgericht hat die Klage auf Zahlung eines weiteren Bruttobetrag i.H.v. 5.625 € stattgegeben. Das LAG hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Die Gründe:
Der Kläger hat nach § 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 1 EFZG einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung des ihm in der Zeit vom 9.2. bis 21.2.2022 zustehenden Arbeitsentgelts.
Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt.
Der Arbeitgeber kann allerdings den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Der Arbeitgeber ist dabei nicht auf die in § 275 Abs. 1a SGB V aufgeführten Regelbeispiele ernsthafter Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit beschränkt. Nach § 275 Abs. 1a SGB V sind Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit insbesondere in Fällen anzunehmen, wenn a) Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind oder der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt oder b) die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist jedoch nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft. Krankheiten können auch in einem gekündigten oder einem aus anderen Gründen endenden Arbeitsverhältnis auftreten. In der Ablösungsphase mag zwar die Motivation eines Arbeitnehmers nachlassen. Daraus ist aber keinesfalls zu schließen, dass jede Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in diesem Zeitraum makelbehaftet ist und die Arbeitsunfähigkeit vom Arbeitnehmer durch Offenlegung seiner Erkrankung, der gesundheitlichen Einschränkungen und der ärztlich verordneten Behandlung zu belegen ist. Auch die Die rund zehnstündige Bahnreise des Klägers weckte keine Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Denn die Belastung durch die Bahnreise ist nicht annähernd mit derjenigen einer Chefarzttätigkeit vergleichbar.
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Aufsatz
Ralf Steffan
Krank oder Simulant? Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und seine Erschütterung
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Landesrecht M-V
Der Kläger war bei der Beklagten als Chefarzt für die orthopädische Abteilung angestellt. Er unterhielt während der Zeit eine Zweitwohnung in der Nähe der Arbeitsstätte; der Familienwohnsitz befindet sich ca. 1.000 km entfernt in Süddeutschland. Am 16.8.2021 kündigte der Kläger das Arbeitsverhältnis innerhalb der arbeitsvertraglich vereinbarten Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Monatsende zum 28.2.2022. In dem Zeitraum nach Ausspruch der Kündigung war der Kläger bis zum 2.2.2022 an insgesamt an 48 Kalendertagen arbeitsunfähig.
Am Dienstagnachmittag, 8.2.2022, sagte der Kläger die Teilnahme an einer regelmäßig stattfindenden Dienstbesprechung aus gesundheitlichen Gründen ab. Am darauffolgenden Tag meldete er sich bei der Beklagten krank und fuhr mit der Bahn rund zehn Stunden zu seinem Familienwohnsitz. Am Donnerstag, 10.2.2022, stellte die behandelnde Ärztin dem Kläger eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum 9.2. bis 21.2.2022 aus. Ab dem 22.2.2022 trat der Kläger seinen bereits zuvor abgestimmten Resturlaub an. Am 1.3.2022 nahm er in einer anderen Reha-Klinik eine neue Beschäftigung als Oberarzt auf.
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Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt.
Der Arbeitgeber kann allerdings den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Der Arbeitgeber ist dabei nicht auf die in § 275 Abs. 1a SGB V aufgeführten Regelbeispiele ernsthafter Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit beschränkt. Nach § 275 Abs. 1a SGB V sind Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit insbesondere in Fällen anzunehmen, wenn a) Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind oder der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt oder b) die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist jedoch nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft. Krankheiten können auch in einem gekündigten oder einem aus anderen Gründen endenden Arbeitsverhältnis auftreten. In der Ablösungsphase mag zwar die Motivation eines Arbeitnehmers nachlassen. Daraus ist aber keinesfalls zu schließen, dass jede Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in diesem Zeitraum makelbehaftet ist und die Arbeitsunfähigkeit vom Arbeitnehmer durch Offenlegung seiner Erkrankung, der gesundheitlichen Einschränkungen und der ärztlich verordneten Behandlung zu belegen ist. Auch die Die rund zehnstündige Bahnreise des Klägers weckte keine Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Denn die Belastung durch die Bahnreise ist nicht annähernd mit derjenigen einer Chefarzttätigkeit vergleichbar.
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