Außerordentliche Kündigung nach Compliance-Untersuchung
BAG v. 5.5.2022 - 2 AZR 483/21
Der Sachverhalt:
Die Beklagte ist u.a. in den Bereichen Verteidigung und Raumfahrt tätig und war mehrfach Auftragnehmerin der Bundeswehr bzw. des Bundesministeriums der Verteidigung. Der Kläger war bei ihr bzw. ihrer Rechtsvorgängerin seit September 1996, zuletzt als Vertriebsleiter Defence, beschäftigt. Bei der Beklagten ist ein "Legal & Compliance Department" gebildet. Im Juli 2018 hatte die Abteilung den Hinweis erhalten, dass Mitarbeitern des Unternehmens ein behördeninternes Dokument des Bundesministeriums der Verteidigung zu einem zukünftigen Beschaffungsvorhaben mit dem Geheimhaltungsgrad "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD)" vorliege. Die Beklagte holte rechtlichen Rat über potenzielle Unternehmensrisiken ein und beauftragte im Oktober 2018 eine Rechtsanwaltskanzlei mit einer unternehmensinternen Untersuchung zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts.
Am 27.6.2019 entschied das dafür gebildete Compliance-Team der Beklagten, die interne Untersuchung zu unterbrechen und - anders als ursprünglich geplant - die bisherigen Untersuchungsergebnisse in einem Zwischenbericht für die Geschäftsführung der Beklagten aufzubereiten, um diese in die Lage zu versetzen, über etwaige weitere, auch arbeitsrechtliche, Maßnahmen zu entscheiden. Die Rechtsanwaltskanzlei stellte daraufhin die ihrer Auffassung nach ermittelten Pflichtverletzungen des Klägers sowie weiterer 88 Personen in einem Zwischenbericht für die Geschäftsführung der Beklagten zusammen. Der Bericht wurde am 16.9.2019 übergeben.
Auf Aufforderung der Beklagten nahm der Kläger mit Schreiben vom 20.9.2019 zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung. Nach Anhörung des Betriebsrats, in der die Beklagte Ausführungen zu 38 sog. Findings über E-Mail-Verkehr unter Beteiligung des Klägers machte, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 27.9.2019 außerordentlich fristlos, hilfsweise außerordentlich unter Einhaltung einer Auslauffrist entsprechend der ordentlichen Kündigungsfrist. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 28.9.2019 zu.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das LAG hat die Entscheidung bestätigt. Auf die Revision der Beklagten hat das BAG das Urteil des LAG aufgehoben, soweit darin die Berufung gegen das den Kündigungsschutzanträgen und dem Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers stattgebende Urteil des Arbeitsgerichts zurückgewiesen wurde. Im Umfang der Aufhebung wurde die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.
Die Gründe:
Die Vorinstanzen haben die fristlose Kündigung der Beklagten vom 27.9.2019 zu Unrecht für rechtsunwirksam gehalten, weil sie nicht innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB erklärt worden sei.
Nach dem vom LAG als wahr unterstellten Vorbringen der Beklagten ist die zweiwöchige Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB gewahrt. Die Frist beginnt nach Satz 2 mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Handelt es sich bei dem Arbeitgeber - wie hier - um eine juristische Person, ist grundsätzlich die Kenntnis des gesetzlich oder satzungsgemäß für die Kündigung zuständigen Organs maßgeblich. Sind für den Arbeitgeber mehrere Personen gemeinsam vertretungsberechtigt, genügt grundsätzlich die Kenntnis schon eines der Gesamtvertreter.
Neben den Mitgliedern der Organe von juristischen Personen und Körperschaften gehören zu den Kündigungsberechtigten auch die Mitarbeiter, denen der Arbeitgeber das Recht zur außerordentlichen Kündigung übertragen hat. Die Kenntnis anderer Personen ist grundsätzlich unbeachtlich. Dies gilt selbst dann, wenn ihnen Vorgesetzten- oder Aufsichtsfunktionen übertragen worden sind. § 166 BGB findet weder direkte noch analoge Anwendung. Die Darlegungs- und Beweislast für die Wahrung der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB trägt der Arbeitgeber, er muss die Umstände schildern, aus denen sich ergibt, wann und wodurch er von den maßgebenden Tatsachen erfahren hat.
Die Beklagte hat vorgetragen, ein für sie Kündigungsberechtigter habe frühestens am 16.9.2019 Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangt. An diesem Tag sei ihrem Geschäftsführer der Zwischenbericht der mit der internen Untersuchung beauftragten Rechtsanwaltskanzlei übergeben worden. Unerheblich war, ob die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB erst zu laufen begann, nachdem der Kläger zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung genommen hatte. Denn mit dem Zugang der Kündigung am 28.9.2019 waren selbst gerechnet ab dem 16.9.2019 noch nicht mehr als zwei Wochen vergangen. Unerheblich war es zudem gem. § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB für die Wahrung der Frist, ob der Leiter der Compliance-Abteilung bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen hatte. Denn dieser war nicht zur Kündigung berechtigt.
Die bisherigen Feststellungen des LAG trugen letztlich nicht die Annahme, die Beklagte könne sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht darauf berufen, die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB gewahrt zu haben. Das in § 242 BGB verankerte Prinzip von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung. Der Arbeitgeber kann sich gem. § 242 BGB nicht auf die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB berufen, wenn er es zielgerichtet verhindert hat, dass eine für ihn kündigungsberechtigte Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangte, oder wenn sonst eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die späte Kenntniserlangung einer kündigungsberechtigten Person als unredlich darstellt. Allerdings hat das LAG keine eine unzulässige Rechtsausübung der Beklagten begründenden Umstände festgestellt. Da der Senat nicht selbst über die Wirksamkeit der Kündigung entscheiden kann, unterliegt das Berufungsurteil insoweit der Aufhebung und Zurückverweisung.
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Die Beklagte ist u.a. in den Bereichen Verteidigung und Raumfahrt tätig und war mehrfach Auftragnehmerin der Bundeswehr bzw. des Bundesministeriums der Verteidigung. Der Kläger war bei ihr bzw. ihrer Rechtsvorgängerin seit September 1996, zuletzt als Vertriebsleiter Defence, beschäftigt. Bei der Beklagten ist ein "Legal & Compliance Department" gebildet. Im Juli 2018 hatte die Abteilung den Hinweis erhalten, dass Mitarbeitern des Unternehmens ein behördeninternes Dokument des Bundesministeriums der Verteidigung zu einem zukünftigen Beschaffungsvorhaben mit dem Geheimhaltungsgrad "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD)" vorliege. Die Beklagte holte rechtlichen Rat über potenzielle Unternehmensrisiken ein und beauftragte im Oktober 2018 eine Rechtsanwaltskanzlei mit einer unternehmensinternen Untersuchung zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts.
Am 27.6.2019 entschied das dafür gebildete Compliance-Team der Beklagten, die interne Untersuchung zu unterbrechen und - anders als ursprünglich geplant - die bisherigen Untersuchungsergebnisse in einem Zwischenbericht für die Geschäftsführung der Beklagten aufzubereiten, um diese in die Lage zu versetzen, über etwaige weitere, auch arbeitsrechtliche, Maßnahmen zu entscheiden. Die Rechtsanwaltskanzlei stellte daraufhin die ihrer Auffassung nach ermittelten Pflichtverletzungen des Klägers sowie weiterer 88 Personen in einem Zwischenbericht für die Geschäftsführung der Beklagten zusammen. Der Bericht wurde am 16.9.2019 übergeben.
Auf Aufforderung der Beklagten nahm der Kläger mit Schreiben vom 20.9.2019 zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung. Nach Anhörung des Betriebsrats, in der die Beklagte Ausführungen zu 38 sog. Findings über E-Mail-Verkehr unter Beteiligung des Klägers machte, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 27.9.2019 außerordentlich fristlos, hilfsweise außerordentlich unter Einhaltung einer Auslauffrist entsprechend der ordentlichen Kündigungsfrist. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 28.9.2019 zu.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das LAG hat die Entscheidung bestätigt. Auf die Revision der Beklagten hat das BAG das Urteil des LAG aufgehoben, soweit darin die Berufung gegen das den Kündigungsschutzanträgen und dem Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers stattgebende Urteil des Arbeitsgerichts zurückgewiesen wurde. Im Umfang der Aufhebung wurde die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.
Die Gründe:
Die Vorinstanzen haben die fristlose Kündigung der Beklagten vom 27.9.2019 zu Unrecht für rechtsunwirksam gehalten, weil sie nicht innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB erklärt worden sei.
Nach dem vom LAG als wahr unterstellten Vorbringen der Beklagten ist die zweiwöchige Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB gewahrt. Die Frist beginnt nach Satz 2 mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Handelt es sich bei dem Arbeitgeber - wie hier - um eine juristische Person, ist grundsätzlich die Kenntnis des gesetzlich oder satzungsgemäß für die Kündigung zuständigen Organs maßgeblich. Sind für den Arbeitgeber mehrere Personen gemeinsam vertretungsberechtigt, genügt grundsätzlich die Kenntnis schon eines der Gesamtvertreter.
Neben den Mitgliedern der Organe von juristischen Personen und Körperschaften gehören zu den Kündigungsberechtigten auch die Mitarbeiter, denen der Arbeitgeber das Recht zur außerordentlichen Kündigung übertragen hat. Die Kenntnis anderer Personen ist grundsätzlich unbeachtlich. Dies gilt selbst dann, wenn ihnen Vorgesetzten- oder Aufsichtsfunktionen übertragen worden sind. § 166 BGB findet weder direkte noch analoge Anwendung. Die Darlegungs- und Beweislast für die Wahrung der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB trägt der Arbeitgeber, er muss die Umstände schildern, aus denen sich ergibt, wann und wodurch er von den maßgebenden Tatsachen erfahren hat.
Die Beklagte hat vorgetragen, ein für sie Kündigungsberechtigter habe frühestens am 16.9.2019 Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangt. An diesem Tag sei ihrem Geschäftsführer der Zwischenbericht der mit der internen Untersuchung beauftragten Rechtsanwaltskanzlei übergeben worden. Unerheblich war, ob die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB erst zu laufen begann, nachdem der Kläger zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung genommen hatte. Denn mit dem Zugang der Kündigung am 28.9.2019 waren selbst gerechnet ab dem 16.9.2019 noch nicht mehr als zwei Wochen vergangen. Unerheblich war es zudem gem. § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB für die Wahrung der Frist, ob der Leiter der Compliance-Abteilung bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen hatte. Denn dieser war nicht zur Kündigung berechtigt.
Die bisherigen Feststellungen des LAG trugen letztlich nicht die Annahme, die Beklagte könne sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht darauf berufen, die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB gewahrt zu haben. Das in § 242 BGB verankerte Prinzip von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung. Der Arbeitgeber kann sich gem. § 242 BGB nicht auf die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB berufen, wenn er es zielgerichtet verhindert hat, dass eine für ihn kündigungsberechtigte Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangte, oder wenn sonst eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die späte Kenntniserlangung einer kündigungsberechtigten Person als unredlich darstellt. Allerdings hat das LAG keine eine unzulässige Rechtsausübung der Beklagten begründenden Umstände festgestellt. Da der Senat nicht selbst über die Wirksamkeit der Kündigung entscheiden kann, unterliegt das Berufungsurteil insoweit der Aufhebung und Zurückverweisung.
Aufsatz
Nachhaltigkeit im Arbeitsverhältnis
Thomas Niklas, ArbRB 2022, 269
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