Entschädigungszahlung wegen überlanger Gerichtsverfahrensdauer ist kein Einkommen im Sinne des SGB II
BSG v. 11.11.2021 - B 14 AS 15/20 R
Der Sachverhalt:
Im Streit steht die Aufhebung und Erstattung von ALG II für die Monate Juni bis September 2017 wegen der Anrechnung einer Entschädigungszahlung infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens (Nichtvermögensnachteil - § 198 Abs 2 GVG).
Zwischen dem Jobcenter und der Klägerin sowie ihrem Ehemann war die Höhe der zu berücksichtigenden Aufwendungen für Unterkunft und Heizung streitig. Nach Abschluss des insoweit geführten Klageverfahrens (im Folgenden: Ausgangsverfahren) erhoben die Klägerin und ihr Ehemann Klage wegen der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens. Der Rechtsstreit wegen der Entschädigungszahlung endete durch Vergleich. Das beklagte Land verpflichtete sich, an die Klägerin und ihren Ehemann jeweils eine Entschädigung für immaterielle Nachteile in Höhe von 2.100 € auf das Konto des Prozessbevollmächtigten zu zahlen. Dem Girokonto der Klägerin wurden davon 3.000 € im Mai 2017 gutgeschrieben.
Nach Erhalt der Kontoauszüge über die Gutschrift des Entschädigungsbetrags hob das beklagte Jobcenter die Bewilligung für den eingangs benannten Zeitraum auf und forderte rund 805 € von der Klägerin zurück.
In dem von der Klägerin eingeleiteten Klageverfahren ist sie erfolgreich gewesen. Das SG hat den angefochtenen Bescheid aufgehoben. Auf die Berufung des Beklagten hob das LSG die Entscheidung des SG auf und wies die Klage ab. Die Zahlung wegen der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens sei anzurechnendes Einkommen. § 11a Abs 2 SGB II sei nicht entsprechend anzuwenden, weil die Entschädigung nach § 198 GVG nicht für die Verletzung eines der von § 253 Abs 2 BGB erfassten Rechtsgüter oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gezahlt werde. Sie sei nicht zweckbestimmt i.S.v. § 11a Abs 3 Satz 1 SGB II, weil sie nicht "final" zu etwas geleistet werde und die Klägerin in ihrer Verwendungsentscheidung frei sei.
Auf die Revision der Klägerin hat das BSG das Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.
Die Gründe:
Die der leistungsberechtigten Klägerin im Mai 2017 zugeflossene Zahlung nach § 198 GVG hat ihre Hilfebedürftigkeit nicht entfallen lassen. Die Entschädigung wegen eines infolge der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens erlittenen immateriellen Nachteils nach § 198 Abs 2 GVG ist nach § 11a Abs 3 Satz 1 SGB II von der Einkommensberücksichtigung bei der Berechnung des ALG II/Sozialgeldes ausgenommen. Danach sind Leistungen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht werden, nur so weit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Leistungen nach dem SGB II im Einzelfall demselben Zweck dienen.
Die Leistung "Entschädigungszahlung nach § 198 GVG" wird aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Vorschrift erbracht. Die Regelung verpflichtet ein Land zu staatlicher Ersatzleistung durch einen staatshaftungsrechtlichen "Entschädigungsanspruch", weil bei einem Beteiligten Nachteile aufgrund von Verzögerungen bei Gerichten eingetreten sind. Dies kann nach § 198 Abs 2 GVG auch eine Entschädigung für einen Nicht-Vermögensnachteil bedeuten, wenn nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Nach den bindenden Feststellungen des LSG ist der Klägerin die Entschädigung wegen eines ebensolchen Nachteils nach § 198 Abs 2 GVG durch eine Verzögerung des Ausgangsverfahrens von 21 Monaten zuerkannt worden.
Die Zahlung diente auch einem § 198 GVG ausdrücklich zu entnehmenden Zweck i.S.d. § 11a Abs 3 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II. Insoweit genügt es, wenn sich die vom Gesetzgeber gewollte "finale" Zweckbindung eindeutig aus dem Gesamtzusammenhang ableiten lässt. Der Zweck des § 198 Abs 2 GVG ist die Wiedergutmachung der Folgen eines überlangen Verfahrens, die auf mehrere Arten erfolgen kann, u.a. durch die Zahlung einer Entschädigung, die wie vorliegend allein dem Ausgleich immaterieller Nachteile zu dienen bestimmt war.
Soweit § 198 GVG keine Vorgaben für die letztendliche Verwendung der Zahlung enthält, hat dies keinen Einfluss auf die finale Zweckbestimmung. § 11a Abs 3 SGB II fordert solche Vorgaben ebenso wenig wie die Parallelregelung des § 83 Abs 1 SGB XII.
Dass § 198 GVG verschiedenartige Nachteile eines überlangen Gerichtsverfahrens pauschaliert ausgleicht, gebietet ebenfalls keine andere Auslegung. Insoweit handelt es sich um eine eigenständige Rechtsgrundlage nach den Vorgaben der EMRK, ohne dass der Ausgleich der Nachteilslagen einzelnen Anspruchsnormen im deutschen Recht zugeordnet werden könnte.
Der Ausgleich des immateriellen Nachteils unterfällt auch nicht der Rückausnahme des § 11a Abs 3 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II. Die dort verlangte Zweckidentität ist nicht gegeben, denn das SGB II sieht für immaterielle Schäden keine Leistungen vor.
BSG PM Nr. 30 vom 11.11.2021
Im Streit steht die Aufhebung und Erstattung von ALG II für die Monate Juni bis September 2017 wegen der Anrechnung einer Entschädigungszahlung infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens (Nichtvermögensnachteil - § 198 Abs 2 GVG).
Zwischen dem Jobcenter und der Klägerin sowie ihrem Ehemann war die Höhe der zu berücksichtigenden Aufwendungen für Unterkunft und Heizung streitig. Nach Abschluss des insoweit geführten Klageverfahrens (im Folgenden: Ausgangsverfahren) erhoben die Klägerin und ihr Ehemann Klage wegen der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens. Der Rechtsstreit wegen der Entschädigungszahlung endete durch Vergleich. Das beklagte Land verpflichtete sich, an die Klägerin und ihren Ehemann jeweils eine Entschädigung für immaterielle Nachteile in Höhe von 2.100 € auf das Konto des Prozessbevollmächtigten zu zahlen. Dem Girokonto der Klägerin wurden davon 3.000 € im Mai 2017 gutgeschrieben.
Nach Erhalt der Kontoauszüge über die Gutschrift des Entschädigungsbetrags hob das beklagte Jobcenter die Bewilligung für den eingangs benannten Zeitraum auf und forderte rund 805 € von der Klägerin zurück.
In dem von der Klägerin eingeleiteten Klageverfahren ist sie erfolgreich gewesen. Das SG hat den angefochtenen Bescheid aufgehoben. Auf die Berufung des Beklagten hob das LSG die Entscheidung des SG auf und wies die Klage ab. Die Zahlung wegen der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens sei anzurechnendes Einkommen. § 11a Abs 2 SGB II sei nicht entsprechend anzuwenden, weil die Entschädigung nach § 198 GVG nicht für die Verletzung eines der von § 253 Abs 2 BGB erfassten Rechtsgüter oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gezahlt werde. Sie sei nicht zweckbestimmt i.S.v. § 11a Abs 3 Satz 1 SGB II, weil sie nicht "final" zu etwas geleistet werde und die Klägerin in ihrer Verwendungsentscheidung frei sei.
Auf die Revision der Klägerin hat das BSG das Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.
Die Gründe:
Die der leistungsberechtigten Klägerin im Mai 2017 zugeflossene Zahlung nach § 198 GVG hat ihre Hilfebedürftigkeit nicht entfallen lassen. Die Entschädigung wegen eines infolge der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens erlittenen immateriellen Nachteils nach § 198 Abs 2 GVG ist nach § 11a Abs 3 Satz 1 SGB II von der Einkommensberücksichtigung bei der Berechnung des ALG II/Sozialgeldes ausgenommen. Danach sind Leistungen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht werden, nur so weit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Leistungen nach dem SGB II im Einzelfall demselben Zweck dienen.
Die Leistung "Entschädigungszahlung nach § 198 GVG" wird aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Vorschrift erbracht. Die Regelung verpflichtet ein Land zu staatlicher Ersatzleistung durch einen staatshaftungsrechtlichen "Entschädigungsanspruch", weil bei einem Beteiligten Nachteile aufgrund von Verzögerungen bei Gerichten eingetreten sind. Dies kann nach § 198 Abs 2 GVG auch eine Entschädigung für einen Nicht-Vermögensnachteil bedeuten, wenn nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Nach den bindenden Feststellungen des LSG ist der Klägerin die Entschädigung wegen eines ebensolchen Nachteils nach § 198 Abs 2 GVG durch eine Verzögerung des Ausgangsverfahrens von 21 Monaten zuerkannt worden.
Die Zahlung diente auch einem § 198 GVG ausdrücklich zu entnehmenden Zweck i.S.d. § 11a Abs 3 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II. Insoweit genügt es, wenn sich die vom Gesetzgeber gewollte "finale" Zweckbindung eindeutig aus dem Gesamtzusammenhang ableiten lässt. Der Zweck des § 198 Abs 2 GVG ist die Wiedergutmachung der Folgen eines überlangen Verfahrens, die auf mehrere Arten erfolgen kann, u.a. durch die Zahlung einer Entschädigung, die wie vorliegend allein dem Ausgleich immaterieller Nachteile zu dienen bestimmt war.
Soweit § 198 GVG keine Vorgaben für die letztendliche Verwendung der Zahlung enthält, hat dies keinen Einfluss auf die finale Zweckbestimmung. § 11a Abs 3 SGB II fordert solche Vorgaben ebenso wenig wie die Parallelregelung des § 83 Abs 1 SGB XII.
Dass § 198 GVG verschiedenartige Nachteile eines überlangen Gerichtsverfahrens pauschaliert ausgleicht, gebietet ebenfalls keine andere Auslegung. Insoweit handelt es sich um eine eigenständige Rechtsgrundlage nach den Vorgaben der EMRK, ohne dass der Ausgleich der Nachteilslagen einzelnen Anspruchsnormen im deutschen Recht zugeordnet werden könnte.
Der Ausgleich des immateriellen Nachteils unterfällt auch nicht der Rückausnahme des § 11a Abs 3 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II. Die dort verlangte Zweckidentität ist nicht gegeben, denn das SGB II sieht für immaterielle Schäden keine Leistungen vor.