Generalanwalt: Nationale Gerichte können im Betrugsfall die Sozialversicherungsbescheinigung von in der EU entsandten Arbeitnehmern außer Acht
EuGH-Generalanwalt 9.11.2017, C-359/16Die belgische Sozialinspektion stellte bei der der Kontrolle des belgischen Bauunternehmens Absa fest, dass das Unternehmen seit Jahren schon kein Personal mehr beschäftigte und sämtliche Arbeiten von bulgarischen Subunternehmern ausführen ließ. Diese entsandten Arbeitnehmer nach Belgien, um sie dort für Absa arbeiten zu lassen. Die Beschäftigung der entsandten Arbeitnehmer wurde der für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge zuständigen belgischen Behörde nicht gemeldet, da die Arbeitnehmer E-101-Bescheinigungen besaßen, die vom zuständigen bulgarischen Träger ausgestellt worden waren. Die Bescheinigungen wiesen die Angliederung an das bulgarische Sozialversicherungssystem aus.
Die belgischen Behörden baten die bulgarischen Behörden um Widerruf der fraglichen Bescheinigungen. Diese gingen jedoch nicht darauf ein. Die belgischen Behörden leiteten daraufhin ein Strafverfahren gegen die Verantwortlichen des Unternehmens ein. Ihnen wurde u.a. zur Last gelegt, dass sie die Arbeitnehmer nicht für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge angemeldet und sie nicht beim belgischen Amt für soziale Sicherheit versichert hatten.
Der Berufungsgerichtshof Antwerpen verurteilte die Betroffenen schließlich und stellte fest, dass die E-101-Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt wurden mit dem Ziel, die Entsendevoraussetzungen der EU zu umgehen und sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen. Der mit der Sache befasste Kassationsgerichtshof legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob ein Gericht des Empfangsmitgliedstaats eine E-101-Bescheinigung für nichtig erklären oder außer Acht lassen kann, wenn bereits festgestellt worden ist, dass diese Bescheinigung auf betrügerische Weise erlangt oder in Anspruch genommen wurde.
Die Schlussanträge des Generalanwalts:
Der EuGH-Generalanwalt hat vorgeschlagen, zu entscheiden, dass ein Gericht des Empfangsmitgliedstaats nicht an die E-101-Bescheinigung gebunden ist, wenn es feststellt, dass diese betrügerisch erwirkt oder in Anspruch genommen wurde. Das Gericht kann dann die Bescheinigung außer Acht lassen.
Grundsätzlich bindet zwar nach ständiger Rechtsprechung die E-101-Bescheinigung die Träger des Empfangsmitgliedstaats. Daraus folgt, dass ein Gericht zur Überprüfung der Gültigkeit einer nicht widerrufenen oder für ungültig erklärten Bescheinigung nicht befugt ist. Doch diese Erwägungen gelten nicht, wenn ein Gericht eines Empfangsmitgliedstaats einen Betrug festgestellt hat, denn eine betrügerische Berufung auf das Unionsrecht ist nicht statthaft. Der Betroffene kann sich also in einem solchen Fall nicht auf die Bescheinigung berufen mit der Folge, dass die allgemeine Regelung, wonach der Arbeitnehmer dem Rechts des Mitgliedstaats unterliegt, in dem er seiner Beschäftigung nachgeht, zur Anwendung kommt.
Ansonsten würden die für den Betrug Verantwortlichen aus ihrem Verhalten Nutzen ziehen können und das Gericht müsste einen Betrug dulden. Zudem bedroht der Betrug auch die Kohärenz der Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten, stellt eine Art unlauteren Wettbewerb dar und stellt die Gleichheit der Arbeitsbedingungen auf den nationalen Arbeitsmärkten in Frage.
Der Betrug muss jedoch im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens mit gesetzlichen Verfahrensgarantien festgestellt worden sein. Es muss durch die Behörden bewiesen worden sein, dass die Voraussetzungen für die Erteilung der Bescheinigung nicht vorliegen und dass die Betroffenen absichtlich das Nichtvorliegen verschleiert haben.
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