Kein Anspruch aus dem GG auf Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen
BVerfG 10.1.2020, 1 BvR 4/17
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin zu 1) ist die IG BAU. Sie ist eine Gewerkschaft, die mit den Arbeitgeberverbänden "Zentralverband des Deutschen Baugewerbes" und "Hauptverband der Deutschen Bauindustrie" Tarifverträge über Sozialkassen des Baugewerbes geschlossen hat. Diese Sozialkassen sind zum Teil schon seit 1949 bestehende gemeinsame Einrichtungen der Tarifparteien i.S.v. § 4 Abs. 2 TVG. Ihr Zweck ist es, im Bereich des Urlaubs, der Altersversorgung und der Berufsbildung Leistungen zu erbringen, die wegen Besonderheiten der Baubranche sonst nicht oder nur eingeschränkt zu erlangen wären. Eine dieser Sozialkassen ist die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bau-wirtschaft, die hier als Beschwerdeführerin zu 2) auftritt.
Finanziert wird dies über Beiträge der Arbeitgeber, die im Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) festgelegt sind. Grundsätzlich ist die Beitragspflicht im Grundsatz auf solche Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber beschränkt, die wegen ihrer Mitgliedschaft in einem tarifschließenden Verband an den VTV gebunden sind. Allerdings wurde der VTV in der Vergangenheit regelmäßig nach § 5 TVG vom BMAS im Einvernehmen mit dem zuständigen Ausschuss für allgemeinverbindlich erklärt. Daher wurden auch nicht tarifgebundene Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu Beiträgen herangezogen.
Das BAG hat entschieden, dass die Allgemeinverbindlicherklärungen der Jahre 2008 und 2010 unwirksam seien. Sie hätten den Voraussetzungen im damals geltenden TVG nicht entsprochen. So habe sich der zuständige Minister bzw. die Ministerin oder der jeweilige Staatssekretär oder die Staatssekretärin nicht mit der Allgemeinverbindlicherklärung befasst. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mind. 50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt hatten. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Das BVerfG hat sie allerdings nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Gründe:
Die Rügen zu Art. 9 Abs. 3 GG sind jedenfalls unbegründet. Die Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführenden wird nicht dadurch verletzt, dass das BAG die Allgemeinverbindlicherklärungen der Tarifverträge über die Sozialkassen der Jahre 2008 und 2010 für unwirksam erklärt hat. Aus Art. 9 Abs. 3 GG folgt für die Beschwerdeführenden kein Anspruch auf Allgemeinverbindlicherklärung des VTV.
Zwar schützt die Koalitionsfreiheit das Recht der Tarifparteien, auch Tarifverträge zu schließen, die von vornherein darauf zielen, auch Nichtmitglieder zu verpflichten. Daraus folgt aber kein Anspruch darauf, dass diese auch für allgemeinverbindlich erklärt werden müssen. Vielmehr darf der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht beliebig außerstaatlichen Stellen überlassen und die Bürgerinnen und Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt von Akteuren ausliefern, die ihnen gegenüber nicht demokratisch oder mitgliedschaftlich legitimiert sind. Ein Anspruch darauf, dass ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird, folgt auch nicht aus der Pflicht des Gesetzgebers, zu ermöglichen, dass von der Koalitionsfreiheit tatsächlich Gebrauch gemacht werden kann. Art. 9 Abs. 3 GG enthält insofern kein Gebot, jeder Ziel-setzung, die Koalitionen verfolgen, zum praktischen Erfolg zu verhelfen.
Das Grundrecht garantiert den Koalitionen vielmehr die tatsächlich realisierbare Chance, durch ihre Tätigkeit die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern. Soweit diese Chance nicht gegeben ist, kann Abhilfe verlangt werden; ein solcher Fall ist hier aber nicht erkennbar. Schließlich lassen die Anforderungen, die das BAG an die Allgemeinverbindlicherklärungen gestellt hat, die Anstrengungen der Koalitionen, ihre Ziele zu erreichen, nicht leerlaufen. Auch beeinträchtigt es die Chancen der Koalitionen nicht, wenn gefordert wird, dass im zuständigen Ministerium konkret personell Verantwortung übernommen werden muss.
Die weitere Anforderung einer 50 %-Quote gebundener Beschäftigter schränkt zwar die Möglichkeiten der Koalitionen ein, ihre Tarifverträge auf Außenseiter zu erstrecken. Doch entfällt damit nicht jede Möglichkeit, die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG in Anspruch zu nehmen.
Hintergrund:
Aus denselben Gründen hat die Kammer auch die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführenden gegen weitere Entscheidungen des BAG nicht zur Entscheidung angenommen, mit denen die Allgemeinverbindlicherklärungen des VTV der Jahre 2012, 2013 und 2014 für unwirksam erklärt worden waren (1 BvR 593/17, 1 BvR 1104/17 und 1 BvR 1459/17).
BVerfG PM Nr. 8 vom 5.2.2020
Die Beschwerdeführerin zu 1) ist die IG BAU. Sie ist eine Gewerkschaft, die mit den Arbeitgeberverbänden "Zentralverband des Deutschen Baugewerbes" und "Hauptverband der Deutschen Bauindustrie" Tarifverträge über Sozialkassen des Baugewerbes geschlossen hat. Diese Sozialkassen sind zum Teil schon seit 1949 bestehende gemeinsame Einrichtungen der Tarifparteien i.S.v. § 4 Abs. 2 TVG. Ihr Zweck ist es, im Bereich des Urlaubs, der Altersversorgung und der Berufsbildung Leistungen zu erbringen, die wegen Besonderheiten der Baubranche sonst nicht oder nur eingeschränkt zu erlangen wären. Eine dieser Sozialkassen ist die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bau-wirtschaft, die hier als Beschwerdeführerin zu 2) auftritt.
Finanziert wird dies über Beiträge der Arbeitgeber, die im Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) festgelegt sind. Grundsätzlich ist die Beitragspflicht im Grundsatz auf solche Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber beschränkt, die wegen ihrer Mitgliedschaft in einem tarifschließenden Verband an den VTV gebunden sind. Allerdings wurde der VTV in der Vergangenheit regelmäßig nach § 5 TVG vom BMAS im Einvernehmen mit dem zuständigen Ausschuss für allgemeinverbindlich erklärt. Daher wurden auch nicht tarifgebundene Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu Beiträgen herangezogen.
Das BAG hat entschieden, dass die Allgemeinverbindlicherklärungen der Jahre 2008 und 2010 unwirksam seien. Sie hätten den Voraussetzungen im damals geltenden TVG nicht entsprochen. So habe sich der zuständige Minister bzw. die Ministerin oder der jeweilige Staatssekretär oder die Staatssekretärin nicht mit der Allgemeinverbindlicherklärung befasst. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mind. 50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt hatten. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Das BVerfG hat sie allerdings nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Gründe:
Die Rügen zu Art. 9 Abs. 3 GG sind jedenfalls unbegründet. Die Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführenden wird nicht dadurch verletzt, dass das BAG die Allgemeinverbindlicherklärungen der Tarifverträge über die Sozialkassen der Jahre 2008 und 2010 für unwirksam erklärt hat. Aus Art. 9 Abs. 3 GG folgt für die Beschwerdeführenden kein Anspruch auf Allgemeinverbindlicherklärung des VTV.
Zwar schützt die Koalitionsfreiheit das Recht der Tarifparteien, auch Tarifverträge zu schließen, die von vornherein darauf zielen, auch Nichtmitglieder zu verpflichten. Daraus folgt aber kein Anspruch darauf, dass diese auch für allgemeinverbindlich erklärt werden müssen. Vielmehr darf der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht beliebig außerstaatlichen Stellen überlassen und die Bürgerinnen und Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt von Akteuren ausliefern, die ihnen gegenüber nicht demokratisch oder mitgliedschaftlich legitimiert sind. Ein Anspruch darauf, dass ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird, folgt auch nicht aus der Pflicht des Gesetzgebers, zu ermöglichen, dass von der Koalitionsfreiheit tatsächlich Gebrauch gemacht werden kann. Art. 9 Abs. 3 GG enthält insofern kein Gebot, jeder Ziel-setzung, die Koalitionen verfolgen, zum praktischen Erfolg zu verhelfen.
Das Grundrecht garantiert den Koalitionen vielmehr die tatsächlich realisierbare Chance, durch ihre Tätigkeit die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern. Soweit diese Chance nicht gegeben ist, kann Abhilfe verlangt werden; ein solcher Fall ist hier aber nicht erkennbar. Schließlich lassen die Anforderungen, die das BAG an die Allgemeinverbindlicherklärungen gestellt hat, die Anstrengungen der Koalitionen, ihre Ziele zu erreichen, nicht leerlaufen. Auch beeinträchtigt es die Chancen der Koalitionen nicht, wenn gefordert wird, dass im zuständigen Ministerium konkret personell Verantwortung übernommen werden muss.
Die weitere Anforderung einer 50 %-Quote gebundener Beschäftigter schränkt zwar die Möglichkeiten der Koalitionen ein, ihre Tarifverträge auf Außenseiter zu erstrecken. Doch entfällt damit nicht jede Möglichkeit, die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG in Anspruch zu nehmen.
Hintergrund:
Aus denselben Gründen hat die Kammer auch die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführenden gegen weitere Entscheidungen des BAG nicht zur Entscheidung angenommen, mit denen die Allgemeinverbindlicherklärungen des VTV der Jahre 2012, 2013 und 2014 für unwirksam erklärt worden waren (1 BvR 593/17, 1 BvR 1104/17 und 1 BvR 1459/17).