19.07.2022

Leiharbeit: Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt in Tarifverträgen - Erforderlichkeit von Ausgleichsvorteilen

Laut Generalanwalt ist Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit dahin auszulegen, dass die Sozialpartner im Wege eines Tarifvertrags vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt zulasten von Leiharbeitnehmern abweichen können, sofern solche Tarifverträge hierzu in einem angemessenen Verhältnis stehende Ausgleichsvorteile in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern gewähren, so dass deren Gesamtschutz geachtet wird.

EuGH, C 311/21: Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.7.2022
Der Sachverhalt:
CM war im Zeitraum von Januar bis April 2017 bei der TimePartner Personalmanagement GmbH (im Folgenden: TimePartner), einem Leiharbeitsunternehmen, als Leiharbeitnehmerin im Rahmen eines befristeten Arbeitsvertrags beschäftigt. Im Rahmen dieses Vertrags war CM einem Unternehmen des Einzelhandels als Kommissioniererin überlassen.

Nach einem Tarifvertrag für Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern (Deutschland) war vergleichbaren, unmittelbar von einem entleihenden Unternehmen eingestellten Arbeitnehmern ein Stundenlohn von 13,64 € brutto zu zahlen. Ein Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer, der zwischen dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen, dem TimePartner angehört, und dem Deutschen Gewerkschaftsbund, dem die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft angehört, geschlossen wurde, wich jedoch von dem in § 8 AÜG (in der bis 31.3.2017 geltenden Fassung) bzw. § 10 AÜG (in der ab 1. April 2017 geltenden Fassung) geregelten Grundsatz der Gleichstellung, insbesondere in Bezug auf das Arbeitsentgelt, ab. Infolgedessen erhielt CM, die Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft war, ein Bruttoentgelt von 9,23 € pro Stunde.

CM erhob beim ArbG Würzburg (Deutschland) Klage auf Zahlung von ca. 1.300 € als Ersatz der Entgeltdifferenz zwischen Leiharbeitnehmern und vergleichbaren, unmittelbar vom entleihenden Unternehmen eingestellten Arbeitnehmern. CM machte geltend, dass die einschlägigen Bestimmungen des AÜG und des Tarifvertrags für Leiharbeitnehmer gegen Art. 5 der Richtlinie 2008/104 verstießen.

Nach Abweisung ihrer Klage durch das ArbG Würzburg legte CM Berufung beim LAG Nürnberg (Deutschland) ein, das diese Berufung zurückwies. Gegen diese Entscheidung legte CM daraufhin Revision beim BAG ein. Zur Entscheidung über die Revision hat das Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Unter welchen Voraussetzungen kann ein von den Sozialpartnern abgeschlossener Tarifvertrag vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern abweichen? Das BAG ersucht den EuGH um Stellungnahme insbesondere zu zwei Aspekten dieser Frage. Erstens dazu, in welchem Verhältnis der Grundsatz der Gleichbehandlung in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit zum Begriff des nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie durch Tarifverträge zu achtenden "Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern" steht. Zweitens dazu, inwieweit solche Tarifverträge gerichtlich daraufhin überprüfbar sind, ob sie den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern achten.

Schlussanträge des Generalanwalts:

1. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit ist dahin auszulegen, dass die Sozialpartner im Wege eines Tarifvertrags vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt zulasten von Leiharbeitnehmern abweichen können, sofern solche Tarifverträge hierzu in einem angemessenen Verhältnis stehende Ausgleichsvorteile in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern gewähren, so dass deren Gesamtschutz geachtet wird.

2. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass

die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern durch einen Vergleich der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern mit den für vergleichbare, unmittelbar vom entleihenden Unternehmen eingestellte Arbeitnehmer geltenden Bedingungen zu beurteilen ist;

die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern die Möglichkeit zum Abschluss von vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichenden Tarifverträgen in Bezug auf Leiharbeitnehmer geben können, die in einem befristeten Arbeitsvertrag mit einem Leiharbeitsunternehmen stehen.

3. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass dann, wenn ein Mitgliedstaat den Sozialpartnern die Möglichkeit zum Abschluss von Tarifverträgen gibt, die Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern enthalten, die vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen, die nationalen Rechtsvorschriften keine detaillierten, von den Sozialpartnern zu erfüllenden Bedingungen und Kriterien vorgeben müssen, sofern die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern sichergestellt ist.

4. Von den Sozialpartnern geschlossene Tarifverträge sind durch die nationalen Gerichte gerichtlich daraufhin überprüfbar, dass sie den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 achten.

Mehr zum Thema:

Aufsatz:
Rechtliche Gestaltungsspielräume beim Drittpersonaleinsatz
Eckhard Kreßel, DB 2022, 801

Aufsatz:
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Christian Rolfs, ZFA 2021, 283

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