Mindesthörschwellen für Strafvollzugsbeamte: Estnische Regelung verstößt gegen Unionsrecht
EuGH v. 15.7.2021 - C-795/19
Der Sachverhalt:
Der Kläger war nahezu 15 Jahre lang bei der Justizvollzugsanstalt Tartu (Estland) als Strafvollzugsbeamter beschäftigt. Während dieses Zeitraums trat die Verordnung Nr. 12 der Regierung der Republik Estland bzgl. Anforderungen an die Gesundheit der Strafvollzugsbeamten und Verfahren der Gesundheitsprüfung sowie Anforderungen an Inhalt und Form des Gesundheitszeugnisses in Kraft. In dieser Verordnung werden u.a. für diese Beamten geltende Mindesthörschwellen festgelegt und ist vorgesehen, dass eine Minderung des Hörvermögens unterhalb dieser Schwellen einen absoluten medizinischen Hinderungsgrund für die Ausübung der Tätigkeit als Strafvollzugsbeamter darstellt. Außerdem gestattet diese Verordnung nicht die Verwendung von korrigierenden Hilfsmitteln bei der Beurteilung der Erfüllung der Anforderungen an das Hörvermögen.
Im Juni 2017 wurde der Kläger vom Direktor der Strafvollzugsanstalt Tartu nach der Vorlage eines Gesundheitszeugnisses, in dem attestiert wurde, dass sein Hörvermögen die in der Verordnung Nr. 12 festgelegten Mindesthörschwellen nicht erreichte, entlassen. Der Kläger erhob Klage in Estland und machte geltend, dass diese Verordnung eine Diskriminierung wegen einer Behinderung enthalte, die u.a. gegen die Verfassung verstoße.Das zuständige Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Auf die Berufung des Klägers gab das Berufungsgericht in Estland der Klage statt und stellte die Rechtswidrigkeit der Entlassungsentscheidung fest. Dieses Gericht entschied auch, ein gerichtliches Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen dieser Verordnung beim vorlegenden Gericht, dem Staatsgerichtshof in Estland, einzuleiten. Da dieser feststellte, dass sich die Pflicht, Personen mit Behinderung genauso wie andere Personen, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden, und ohne Diskriminierung zu behandeln, nicht nur aus der Verfassung, sondern auch aus dem Unionsrecht ergebe, beschloss er, den EuGH zu befragen, ob die Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 einer solchen nationalen Regelung entgegenstehen.
Die Gründe:
Die Verordnung Nr. 12 fällt in den Geltungsbereich der Richtlinie und begründet eine Ungleichbehandlung, die unmittelbar auf einer Behinderung beruht. Es ist zu prüfen, ob diese auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt werden kann, wonach die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit diesem Diskriminierungsgrund steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Soweit diese Bestimmung es ermöglicht, vom Diskriminierungsverbot abzuweichen, ist sie allerdings eng auszulegen.
Das Erfordernis, richtig hören zu können und insofern ein bestimmtes Hörvermögen zu besitzen, ergibt sich aus der Art der Aufgaben eines Strafvollzugsbeamten. Wegen der Art dieser Aufgaben und der Bedingungen ihrer Ausübung kann die Tatsache, dass das Hörvermögen eine von der nationalen Regelung festgelegte Mindesthörschwelle erreichen muss, als "wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung" i.S.d. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden kann. Die Verordnung Nr. 12 zielt darauf ab, die Sicherheit von Personen und die öffentliche Ordnung zu wahren. Insoweit verfolgt sie also legitime Ziele. Zu prüfen ist daher, ob das von dieser Verordnung vorgesehene Erfordernis, wonach das Hörvermögen von Strafvollzugsbeamten Mindesthörschwellen erreichen muss, ohne dass die Verwendung von korrigierenden Hilfsmitteln zur Beurteilung des Erreichens dieser Schwellen gestattet ist, geeignet ist, diese Ziele zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist.
In Bezug auf die Geeignetheit dieses Erfordernisses ist darauf hinzuweisen, dass eine Regelung nur dann geeignet ist, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, das verfolgte Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen. Die Verordnung gestattet etwa Strafvollzugsbeamten, bei der Beurteilung der Einhaltung der Vorschriften, die sie im Bereich des Sehvermögens vorsieht, korrigierende Hilfsmittel zu verwenden. Diese Möglichkeit ist hingegen im Bereich des Hörvermögens ausgeschlossen. In Bezug auf die Erforderlichkeit dieses Erfordernisses ist festzustellen, dass das Nichterreichen der von der Verordnung Nr. 12 festgelegten Schwellen der Ausübung der Tätigkeit als Strafvollzugsbeamter absolut entgegensteht, da diese Schwellen für alle Strafvollzugsbeamten ohne Ausnahme gelten. Außerdem erlaubt diese Verordnung keine individuelle Beurteilung der Fähigkeit des Strafvollzugsbeamten, die wesentlichen Aufgaben dieses Berufs trotz seiner Hörschwäche zu erfüllen.
Hinzuweisen ist auch auf die sich aus Art. 5 der Richtlinie 2000/78 ergebende Pflicht des Arbeitgebers, die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung und die Ausübung eines Berufes zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Die Verordnung Nr. 12 gestatte vorliegend dem Arbeitgeber des Klägers nicht, vor dessen Entlassung zu überprüfen, ob Maßnahmen wie die Verwendung eines Hörgeräts, eine Befreiung von der Pflicht, Aufgaben zu erfüllen, die das Erreichen der erforderlichen Mindesthörschwellen erfordern, oder eine Verwendung auf einer Stelle, die das Erreichen dieser Schwellen nicht erfordern, in Betracht zu ziehen waren, und dass keine Angabe dazu gemacht wird, ob die dadurch auferlegte Belastung unverhältnismäßig wäre.
Die Verordnung scheint daher ein Erfordernis aufgestellt zu haben, das über das hinausgeht, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist. Abschließend ist daher festzustellen, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a, Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2000/78 einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der es absolut unmöglich ist, einen Strafvollzugsbeamten weiterzubeschäftigen, dessen Hörvermögen nicht die in dieser Regelung festgelegten Mindesthörschwellen erreicht, und die nicht die Prüfung gestattet, ob dieser Beamte in der Lage ist, seine Aufgaben - ggf. nachdem angemessene Vorkehrungen i.S.v. Art. 5 getroffen wurden - zu erfüllen.
EuGH PM Nr. 134 Vom 15.7.2021
Der Kläger war nahezu 15 Jahre lang bei der Justizvollzugsanstalt Tartu (Estland) als Strafvollzugsbeamter beschäftigt. Während dieses Zeitraums trat die Verordnung Nr. 12 der Regierung der Republik Estland bzgl. Anforderungen an die Gesundheit der Strafvollzugsbeamten und Verfahren der Gesundheitsprüfung sowie Anforderungen an Inhalt und Form des Gesundheitszeugnisses in Kraft. In dieser Verordnung werden u.a. für diese Beamten geltende Mindesthörschwellen festgelegt und ist vorgesehen, dass eine Minderung des Hörvermögens unterhalb dieser Schwellen einen absoluten medizinischen Hinderungsgrund für die Ausübung der Tätigkeit als Strafvollzugsbeamter darstellt. Außerdem gestattet diese Verordnung nicht die Verwendung von korrigierenden Hilfsmitteln bei der Beurteilung der Erfüllung der Anforderungen an das Hörvermögen.
Im Juni 2017 wurde der Kläger vom Direktor der Strafvollzugsanstalt Tartu nach der Vorlage eines Gesundheitszeugnisses, in dem attestiert wurde, dass sein Hörvermögen die in der Verordnung Nr. 12 festgelegten Mindesthörschwellen nicht erreichte, entlassen. Der Kläger erhob Klage in Estland und machte geltend, dass diese Verordnung eine Diskriminierung wegen einer Behinderung enthalte, die u.a. gegen die Verfassung verstoße.Das zuständige Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Auf die Berufung des Klägers gab das Berufungsgericht in Estland der Klage statt und stellte die Rechtswidrigkeit der Entlassungsentscheidung fest. Dieses Gericht entschied auch, ein gerichtliches Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen dieser Verordnung beim vorlegenden Gericht, dem Staatsgerichtshof in Estland, einzuleiten. Da dieser feststellte, dass sich die Pflicht, Personen mit Behinderung genauso wie andere Personen, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden, und ohne Diskriminierung zu behandeln, nicht nur aus der Verfassung, sondern auch aus dem Unionsrecht ergebe, beschloss er, den EuGH zu befragen, ob die Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 einer solchen nationalen Regelung entgegenstehen.
Die Gründe:
Die Verordnung Nr. 12 fällt in den Geltungsbereich der Richtlinie und begründet eine Ungleichbehandlung, die unmittelbar auf einer Behinderung beruht. Es ist zu prüfen, ob diese auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt werden kann, wonach die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit diesem Diskriminierungsgrund steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Soweit diese Bestimmung es ermöglicht, vom Diskriminierungsverbot abzuweichen, ist sie allerdings eng auszulegen.
Das Erfordernis, richtig hören zu können und insofern ein bestimmtes Hörvermögen zu besitzen, ergibt sich aus der Art der Aufgaben eines Strafvollzugsbeamten. Wegen der Art dieser Aufgaben und der Bedingungen ihrer Ausübung kann die Tatsache, dass das Hörvermögen eine von der nationalen Regelung festgelegte Mindesthörschwelle erreichen muss, als "wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung" i.S.d. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden kann. Die Verordnung Nr. 12 zielt darauf ab, die Sicherheit von Personen und die öffentliche Ordnung zu wahren. Insoweit verfolgt sie also legitime Ziele. Zu prüfen ist daher, ob das von dieser Verordnung vorgesehene Erfordernis, wonach das Hörvermögen von Strafvollzugsbeamten Mindesthörschwellen erreichen muss, ohne dass die Verwendung von korrigierenden Hilfsmitteln zur Beurteilung des Erreichens dieser Schwellen gestattet ist, geeignet ist, diese Ziele zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist.
In Bezug auf die Geeignetheit dieses Erfordernisses ist darauf hinzuweisen, dass eine Regelung nur dann geeignet ist, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, das verfolgte Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen. Die Verordnung gestattet etwa Strafvollzugsbeamten, bei der Beurteilung der Einhaltung der Vorschriften, die sie im Bereich des Sehvermögens vorsieht, korrigierende Hilfsmittel zu verwenden. Diese Möglichkeit ist hingegen im Bereich des Hörvermögens ausgeschlossen. In Bezug auf die Erforderlichkeit dieses Erfordernisses ist festzustellen, dass das Nichterreichen der von der Verordnung Nr. 12 festgelegten Schwellen der Ausübung der Tätigkeit als Strafvollzugsbeamter absolut entgegensteht, da diese Schwellen für alle Strafvollzugsbeamten ohne Ausnahme gelten. Außerdem erlaubt diese Verordnung keine individuelle Beurteilung der Fähigkeit des Strafvollzugsbeamten, die wesentlichen Aufgaben dieses Berufs trotz seiner Hörschwäche zu erfüllen.
Hinzuweisen ist auch auf die sich aus Art. 5 der Richtlinie 2000/78 ergebende Pflicht des Arbeitgebers, die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung und die Ausübung eines Berufes zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Die Verordnung Nr. 12 gestatte vorliegend dem Arbeitgeber des Klägers nicht, vor dessen Entlassung zu überprüfen, ob Maßnahmen wie die Verwendung eines Hörgeräts, eine Befreiung von der Pflicht, Aufgaben zu erfüllen, die das Erreichen der erforderlichen Mindesthörschwellen erfordern, oder eine Verwendung auf einer Stelle, die das Erreichen dieser Schwellen nicht erfordern, in Betracht zu ziehen waren, und dass keine Angabe dazu gemacht wird, ob die dadurch auferlegte Belastung unverhältnismäßig wäre.
Die Verordnung scheint daher ein Erfordernis aufgestellt zu haben, das über das hinausgeht, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist. Abschließend ist daher festzustellen, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a, Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2000/78 einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der es absolut unmöglich ist, einen Strafvollzugsbeamten weiterzubeschäftigen, dessen Hörvermögen nicht die in dieser Regelung festgelegten Mindesthörschwellen erreicht, und die nicht die Prüfung gestattet, ob dieser Beamte in der Lage ist, seine Aufgaben - ggf. nachdem angemessene Vorkehrungen i.S.v. Art. 5 getroffen wurden - zu erfüllen.