22.10.2018

Polen muss die neuen Ruhestandsregelungen für Richter am Obersten Gerichtshof mit sofortiger Wirkung zunächst aussetzen

Polen hat die Anwendung der nationalen Bestimmungen zur Senkung des Ruhestandalters der Richter am Obersten Gerichtshof sofort auszusetzen. Der Beschluss der Vizepräsidentin des EuGH gilt rückwirkend für die von diesen Bestimmungen betroffenen Richter am Obersten Gerichtshof.

EuGH 19.10.2018, C-619/18 R, vorläufiger Beschluss der Vizepräsidentin
Der Sachverhalt:

Am 3.4.2018 trat das neue polnische Gesetz über den Obersten Gerichtshof in Kraft. Durch dieses Gesetz wurde u.a. das Ruhestandsalter der Richter am Obersten Gerichtshof auf 65 Jahre gesenkt. Die neue Altersgrenze gilt ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes. Eine Verlängerung des aktiven richterlichen Diensts am Obersten Gerichtshof über das Alter von 65 Jahren hinaus ist demnach zwar noch möglich, unterliegt aber der Vorlage einer Erklärung, aus der der Wunsch des Richters hervorgeht, sein Amt weiter auszuüben, und eine Bescheinigung, die attestiert, dass sein Gesundheitszustand ihm die Ausübung des Amts erlaubt sowie der Genehmigung durch den Präsidenten der Republik Polen.

Auf Grund des Gesetzes mussten daher alle amtierenden Richter am Obersten Gerichtshof, die das 65. Lebensjahr vor Inkrafttreten des Gesetzes oder bis spätestens 3.7.2018 vollendet haben, am 4.7.2018 in den Ruhestand treten, es sei denn, sie hatten bis 3.5.2018 die erforderliche Erklärung und Bescheinigung vorgelegt und der Präsident der Republik Polen hatte ihnen eine Genehmigung erteilt. Bei seiner Entscheidung ist der Präsident der Republik Polen an keine Kriterien gebunden. Zudem unterliegt seine Entscheidung nicht der gerichtlichen Kontrolle und das Gesetz räumt ihm die Befugnis ein, bis zum 3.4.2019 nach seinem freien Ermessen über eine Erhöhung der Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof zu entscheiden.

Am 2.10.2018 reichte die EU-Kommission Vertragsverletzungsklage beim EuGH ein. Die Kommission ist der Auffassung, dass Polen durch das Senken des Ruhestandsalters der Richter am Obersten Gerichtshof und durch die Einräumung der Befugnis des Präsidenten der Republik Polen, die aktive richterliche Dienstzeit nach freiem Ermessen verlängern zu können, gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Der Charta der Grundrechte der EU verstoßen hat.

Die Kommission hat im Rahmen eines Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes u.a. beantragt, die Anwendung der nationalen Bestimmungen über die Senklungen des Ruhestandsalters der Richter am Obersten Gerichtshof auszusetzen. Die Vizepräsidentin des EUGH gab sämtlichen Anträgen vorläufig statt.

Die Gründe:

Das Vorbringen der Kommission ist dem ersten Anschein nach weder offenkundig unzulässig noch erscheint es jeglicher Grundlage entbehrend. Daher ist nicht ausgeschlossen, dass die Voraussetzung des fumus boni iuris erfüllt ist.

Zudem ist auch die Voraussetzung der Dringlichkeit gegeben. Es steht fest, dass durch die streitgegenständlichen Bestimmungen, die bereits zur Anwendung gekommen sind, zahlreiche Richter am Obersten Gerichtshof, darunter die Präsidentin und zwei Kammerpräsidenten, in den Ruhestand versetzt worden sind. Dies und die gleichzeitige, vom Präsidenten der Republik Polen genehmigte Erhöhung der Anzahl der Richter am Obersten Gerichtshof von 93 auf 120, die Ausschreibung von 44 freien Stellen und die Ernennung von mindestens 27 neuen Richtern führt zu einer sofortigen grundlegenden Umbesetzung des Obersten Gerichtshofs, die ausgeweitet werden kann.

Würde der Verletzungsklage der Kommission stattgegeben, hätte dies zur Folge, dass alle vom Obersten Gerichtshof bis zur Entscheidung des EuGH über die Vertragsverletzungsklage erlassenen Entscheidungen ohne die mit dem Grundrecht jedes Einzelnen auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht verbundenen Garantien ergangen wären. Das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit gehört zum Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren. Die Verletzung eines Grundrechts wie des Rechts auf ein unabhängiges Gericht ist daher schon nach dem Wesen des Rechts per se geeignet, einen schweren, nicht wiedergutzumachenden Schaden zu verursachen. Die Dringlichkeit ist daher gegeben.

Schließlich spricht auch die Abwägung der beteiligten Interessen für eine Erteilung der einstweiligen Anordnungen, denn würde der Vertragsverletzungsklage nicht stattgegeben, hätte die Erteilung der Anordnungen leidglich zur Folge, dass die Geltung der streitgegenständlichen Bestimmungen aufgeschoben würde. Daher beeinträchtigt die Erteilung der Anordnungen nicht den Zweck der Bestimmungen in schwerwiegender Art und Weise. Würde hingegen der Verletzungsklage stattgegeben, könnte die Anwendung der fraglichen Bestimmungen wie oben beschrieben das Grundrecht auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht in nicht wiedergutzumachender Weise beschädigen.

Linkhinweis:

Für die auf den Webseiten des EuGH veröffentlichte Pressemitteilung der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 159/2018 vom 19.10.2018
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