Sittenwidrigkeit einer Arbeitsvergütung innerhalb eines Wirtschaftsgebiets
LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 26.7.2022 - 5 Sa 284/21
Der Sachverhalt:
Die Klägerin arbeitet seit 2007 bei der beklagten Brauerei in der Abteilung Verpackung/Getränkeabfüllung. Aufgabe der Klägerin ist es vor allem, die Getränke je nach Kundenwunsch auf Paletten unterschiedlicher Größe zu stapeln, die Palette in Folie einzuwickeln und für den Abtransport bereitzustellen.
Im Herbst 2020 kam es bei der nicht tarifgebundenen Beklagten zu Streiks, um eine tarifliche Entlohnung zu erreichen. Die Klägerin, die Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ist, erhielt zu dieser Zeit einen Stundenlohn von 10,10 € brutto zzgl. einer Zulage von 0,25 € je Stunde, die die Beklagte ab einer Beschäftigungszeit von zehn Jahren gewährt. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit der Klägerin beträgt 40 Stunden. Mit dem Novembergehalt 2020 zahlte die Beklagte ihr ein Weihnachtsgeld i.H.v. 859,61 € brutto. Für die geleistete Nachtarbeit erhielt die Klägerin Zuschläge von 25 %. Der Mindestlohn belief sich im Jahr 2020 auf 9,35 € je Zeitstunde. Die Streiks blieben erfolglos und führten nicht zum Abschluss eines Tarifvertrages. Im Mai 2021 wurde eine betriebliche Entgeltordnung mit leistungsbezogenen Vergütungsbestandteilen eingeführt.
Ende Januar 2021 forderte die Klägerin von der Beklagten die Zahlung eines weiteren monatlichen Betrages von jeweils 1.418,77 € brutto für den Zeitraum Oktober bis einschließlich Dezember 2020. Zur Begründung berief sie sich auf die Sittenwidrigkeit ihres Stundenlohns angesichts der im Wirtschaftsgebiet üblichen Vergütung. Die Beklagte trat der Forderung entgegen und verwies auf das im Umkreis von 30 km maßgebliche Vergütungsniveau.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass es womöglich ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung gebe. Es fehle aber an der Ausbeutung einer Zwangslage der Klägerin. Das LAG hat die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen.
Die Gründe:
Die Klägerin hat keinen Anspruch aus § 612 Abs. 2 BGB, § 138 BGB auf Zahlung der Differenz zu dem Tariflohn für die Monate Oktober, November und Dezember 2020.
Die in den Monaten Oktober bis einschließlich Dezember 2020 gewährte Vergütung ist nicht sittenwidrig gering. Die dieser Zahlung zugrundeliegende (konkludente) Lohnabrede der Parteien ist nicht unwirksam bzw. nichtig. Das auffällige Missverhältnis bestimmt sich nach dem objektiven Wert der Leistung des Arbeitnehmers. Das Missverhältnis ist auffällig, wenn es einem Kundigen, ggf. nach Aufklärung des Sachverhalts, ohne weiteres ins Auge springt. Erreicht die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel eines in dem Wirtschaftszweig üblicherweise gezahlten Tarifentgelts, liegt eine ganz erhebliche, ohne weiteres ins Auge fallende und regelmäßig nicht mehr hinnehmbare Abweichung vor, für die es einer spezifischen Rechtfertigung bedarf.
Dasselbe gilt, wenn bei fehlender Maßgeblichkeit der Tarifentgelte die vereinbarte Vergütung mehr als ein Drittel unter dem Lohnniveau, das sich für die auszuübende Tätigkeit in der Wirtschaftsregion gebildet hat, bleibt. Von der Üblichkeit der Tarifvergütung kann ohne weiteres ausgegangen werden, wenn mehr als 50 % der Arbeitgeber eines Wirtschaftsgebiets tarifgebunden sind oder wenn die organisierten Arbeitgeber mehr als 50 % der Arbeitnehmer eines Wirtschaftsgebiets beschäftigen. Wirtschaftsgebiet ist bei ortsgebunden tätigen Unternehmen regelmäßig der räumliche Bereich, in dem die Betriebsstätte liegt und aus dem der wesentliche Teil des Personals stammt.
In subjektiver Hinsicht verlangt der Tatbestand des Lohnwuchers eine Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen. Ein Arbeitgeber beutet die auf den oben genannten Umständen beruhende Schwächesituation eines Arbeitnehmers aus, wenn er sich in Kenntnis vom Missverhältnis der beiderseitigen Leistungen diese Schwäche bewusst zunutze macht. Der subjektive Tatbestand des wucherähnlichen Geschäfts i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB erfordert eine verwerfliche Gesinnung des Arbeitgebers.
Die Vergütung der Klägerin weist schon kein auffälliges Missverhältnis zu dem objektiven Wert ihrer Arbeitsleistung auf. Das ihr gezahlte Entgelt ist nicht um mehr als 1/3 geringer als der objektive Wert der von ihr auszuübenden Arbeitsleistung im Wirtschaftszweig und Wirtschaftsgebiet. Darüber hinaus hat die Beklagte nicht eine Zwangslage der Klägerin, eine Unerfahrenheit, einen Mangel an Urteilsvermögen oder eine erhebliche Willensschwäche der Klägerin ausgenutzt. Zunutze gemacht hat sich die Beklagte lediglich die wirtschaftliche Situation im Umkreis ihres Standorts, d. h. den Mangel an besser vergüteten Arbeitsangeboten für eine solche Tätigkeit in dem Gebiet und die eingeschränkte Mobilität der Arbeitnehmer. Die Beklagte hat nicht in Kenntnis des Missverhältnisses der beiderseitigen Leistungen eine persönliche Schwächesituation der Klägerin ausgenutzt. Die Beklagte hat sich an dem allgemeinen Lohnniveau des Großraums ihres Standorts orientiert.
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Die Klägerin arbeitet seit 2007 bei der beklagten Brauerei in der Abteilung Verpackung/Getränkeabfüllung. Aufgabe der Klägerin ist es vor allem, die Getränke je nach Kundenwunsch auf Paletten unterschiedlicher Größe zu stapeln, die Palette in Folie einzuwickeln und für den Abtransport bereitzustellen.
Im Herbst 2020 kam es bei der nicht tarifgebundenen Beklagten zu Streiks, um eine tarifliche Entlohnung zu erreichen. Die Klägerin, die Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ist, erhielt zu dieser Zeit einen Stundenlohn von 10,10 € brutto zzgl. einer Zulage von 0,25 € je Stunde, die die Beklagte ab einer Beschäftigungszeit von zehn Jahren gewährt. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit der Klägerin beträgt 40 Stunden. Mit dem Novembergehalt 2020 zahlte die Beklagte ihr ein Weihnachtsgeld i.H.v. 859,61 € brutto. Für die geleistete Nachtarbeit erhielt die Klägerin Zuschläge von 25 %. Der Mindestlohn belief sich im Jahr 2020 auf 9,35 € je Zeitstunde. Die Streiks blieben erfolglos und führten nicht zum Abschluss eines Tarifvertrages. Im Mai 2021 wurde eine betriebliche Entgeltordnung mit leistungsbezogenen Vergütungsbestandteilen eingeführt.
Ende Januar 2021 forderte die Klägerin von der Beklagten die Zahlung eines weiteren monatlichen Betrages von jeweils 1.418,77 € brutto für den Zeitraum Oktober bis einschließlich Dezember 2020. Zur Begründung berief sie sich auf die Sittenwidrigkeit ihres Stundenlohns angesichts der im Wirtschaftsgebiet üblichen Vergütung. Die Beklagte trat der Forderung entgegen und verwies auf das im Umkreis von 30 km maßgebliche Vergütungsniveau.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass es womöglich ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung gebe. Es fehle aber an der Ausbeutung einer Zwangslage der Klägerin. Das LAG hat die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen.
Die Gründe:
Die Klägerin hat keinen Anspruch aus § 612 Abs. 2 BGB, § 138 BGB auf Zahlung der Differenz zu dem Tariflohn für die Monate Oktober, November und Dezember 2020.
Die in den Monaten Oktober bis einschließlich Dezember 2020 gewährte Vergütung ist nicht sittenwidrig gering. Die dieser Zahlung zugrundeliegende (konkludente) Lohnabrede der Parteien ist nicht unwirksam bzw. nichtig. Das auffällige Missverhältnis bestimmt sich nach dem objektiven Wert der Leistung des Arbeitnehmers. Das Missverhältnis ist auffällig, wenn es einem Kundigen, ggf. nach Aufklärung des Sachverhalts, ohne weiteres ins Auge springt. Erreicht die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel eines in dem Wirtschaftszweig üblicherweise gezahlten Tarifentgelts, liegt eine ganz erhebliche, ohne weiteres ins Auge fallende und regelmäßig nicht mehr hinnehmbare Abweichung vor, für die es einer spezifischen Rechtfertigung bedarf.
Dasselbe gilt, wenn bei fehlender Maßgeblichkeit der Tarifentgelte die vereinbarte Vergütung mehr als ein Drittel unter dem Lohnniveau, das sich für die auszuübende Tätigkeit in der Wirtschaftsregion gebildet hat, bleibt. Von der Üblichkeit der Tarifvergütung kann ohne weiteres ausgegangen werden, wenn mehr als 50 % der Arbeitgeber eines Wirtschaftsgebiets tarifgebunden sind oder wenn die organisierten Arbeitgeber mehr als 50 % der Arbeitnehmer eines Wirtschaftsgebiets beschäftigen. Wirtschaftsgebiet ist bei ortsgebunden tätigen Unternehmen regelmäßig der räumliche Bereich, in dem die Betriebsstätte liegt und aus dem der wesentliche Teil des Personals stammt.
In subjektiver Hinsicht verlangt der Tatbestand des Lohnwuchers eine Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen. Ein Arbeitgeber beutet die auf den oben genannten Umständen beruhende Schwächesituation eines Arbeitnehmers aus, wenn er sich in Kenntnis vom Missverhältnis der beiderseitigen Leistungen diese Schwäche bewusst zunutze macht. Der subjektive Tatbestand des wucherähnlichen Geschäfts i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB erfordert eine verwerfliche Gesinnung des Arbeitgebers.
Die Vergütung der Klägerin weist schon kein auffälliges Missverhältnis zu dem objektiven Wert ihrer Arbeitsleistung auf. Das ihr gezahlte Entgelt ist nicht um mehr als 1/3 geringer als der objektive Wert der von ihr auszuübenden Arbeitsleistung im Wirtschaftszweig und Wirtschaftsgebiet. Darüber hinaus hat die Beklagte nicht eine Zwangslage der Klägerin, eine Unerfahrenheit, einen Mangel an Urteilsvermögen oder eine erhebliche Willensschwäche der Klägerin ausgenutzt. Zunutze gemacht hat sich die Beklagte lediglich die wirtschaftliche Situation im Umkreis ihres Standorts, d. h. den Mangel an besser vergüteten Arbeitsangeboten für eine solche Tätigkeit in dem Gebiet und die eingeschränkte Mobilität der Arbeitnehmer. Die Beklagte hat nicht in Kenntnis des Missverhältnisses der beiderseitigen Leistungen eine persönliche Schwächesituation der Klägerin ausgenutzt. Die Beklagte hat sich an dem allgemeinen Lohnniveau des Großraums ihres Standorts orientiert.
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