Tarifvertragsauslegung: Verständnis des Begriffs "gearbeitet" in § 10 Nr. 4.4 MTV
BAG v. 28.3.2023 - 9 AZR 219/22
Der Sachverhalt:
Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger war bei der Beklagten vom 7.11.1988 bis zum 31.3.2020 mit einem Bruttogehalt i.H.v. zuletzt rund 6.038 € beschäftigt. Der auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbare Manteltarifvertrag für die Metallindustrie im Nordwestlichen Niedersachsen (MTV) in der Fassung vom 17.12.2018 regelt u.a. den Anspruch auf 30 Urlaubstage. Am 6.11.2019 trafen die Parteien eine "Freistellungsvereinbarung im Rahmen des Lebensarbeitszeitkontos - A Invest for Life Wertkontensystem zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit".
In der Zeit vom 26.11.2019 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 31.3.2020 war der Kläger krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses galt die Beklagte sieben Arbeitstage Urlaub ab und zahlte an den Kläger die hierauf entfallende zusätzliche Urlaubsvergütung. Der Kläger verlangte allerdings die Abgeltung von weiteren 28 Urlaubstagen und Zahlung zusätzlicher Urlaubsvergütung. Er war der Ansicht, ihm stehe für 2020 ein Anspruch auf den vollen tariflichen Jahresurlaub zzgl. des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen zu. Der Tarifbegriff "gearbeitet" i.S.d. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV verlange nicht, dass tatsächlich Arbeitsleistung erbracht worden sei. Es genüge, dass ein langjährig beschäftigter Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung verpflichtet gewesen sei.
Das Arbeitsgericht hat die auf Urlaubsabgeltung i.H.v. 11.660 € gerichtete Klage abgewiesen. Das hat LAG die Beklagte - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - zur Zahlung von Urlaubsabgeltung und zusätzlicher Urlaubsvergütung für 15 Arbeitstage i.H.v. insgesamt 6.246 € brutto verurteilt. Auf die Revision der Beklagten hat das BAG den Betrag auf 937 € reduziert.
Die Gründe:
Dem Kläger stehen die von ihm reklamierten Zahlungsansprüche nicht für die ihm durch das LAG zugesprochenen 15 Urlaubstage, sondern lediglich für 2,25 Urlaubstage zu.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz sind Arbeitstage, an denen ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt und zugleich von der Arbeitspflicht freigestellt ist, nicht als "gearbeitet" i.S.d. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV zu werten. Das ergibt sich aus der Auslegung der Tarifnorm. Danach gelten bei gesetzeskonformem Verständnis des Begriffs "gearbeitet" in § 10 Nr. 4.4 MTV Zeiten der Inanspruchnahme von Urlaub als Arbeitsleistung, nicht aber Zeiten der Arbeitsunfähigkeit während der Freistellung von der Arbeitspflicht während eines Modells zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Der Wortlaut der Tarifnorm verlangt für das Entstehen des Anspruchs auf Mehrurlaub eine Arbeitsleistung im Austrittsjahr. Gem. § 10 Nr. 4.1.3 MTV haben Arbeitnehmer bei Ausscheiden nach erfüllter Wartezeit Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses. Davon abweichend erhält ein ausscheidender Beschäftigter nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV den vollen Jahresurlaub, sofern er wegen der Inanspruchnahme einer Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente ausscheidet und dem Betrieb zehn Jahre ununterbrochen angehört hat, jedoch höchstens so viele Tage, wie er im Urlaubsjahr "gearbeitet" hat.
Systematisch handelt es sich bei § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV damit um eine privilegierende Spezialnorm für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer. Diese erhalten im Falle eines Ausscheidens wegen Inanspruchnahme von Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente im Ausscheidensjahr statt eines bloßen Teilurlaubsanspruchs den vollen Jahresurlaub, sofern im Austrittsjahr eine Arbeitsleistung erbracht wird. Voll- statt Teilurlaub soll nur Arbeitnehmern zugutekommen, bei denen im Jahr des Ausscheidens keine erhebliche Störung des Austauschverhältnisses von Leistung und Gegenleistung eingetreten ist. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ist aber in einer dem Anspruch auf den vollen Jahresurlaub nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV entgegenstehenden Weise gestört, wenn der Arbeitnehmer im Austrittsjahr durchgängig arbeitsunfähig und daher nicht in der Lage ist, eine Arbeitsleistung zu erbringen. Auch eine vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit vereinbarte Freistellung von der Arbeitspflicht ändert nichts daran, dass der Arbeitnehmer im Austrittsjahr keine Arbeitsleistung erbringt und auch nicht erbringen kann.
Die weitergehende Auslegung, auch Zeiten einer Freistellung von der Arbeitspflicht bei gleichzeitig bestehender Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers als "gearbeitet" i.S.v. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV anzusehen, verlangt das Gesetz nicht. Eine Freistellung von der Arbeitspflicht im Rahmen eines "Modells zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit" steht nicht Zeiten tatsächlich geleisteter Arbeit gleich. Da dem Kläger bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31.3.2020 ein Anspruch von 9,25 Urlaubstagen zustand, der ihm wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr gewährt werden konnte, und die Beklagte bisher Abgeltung für lediglich sieben Urlaubstage geleistet hat, besteht nach § 7 Abs. 4 BUrlG noch ein Abgeltungsanspruch für 2,25 Urlaubstage.
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BAG online
Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger war bei der Beklagten vom 7.11.1988 bis zum 31.3.2020 mit einem Bruttogehalt i.H.v. zuletzt rund 6.038 € beschäftigt. Der auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbare Manteltarifvertrag für die Metallindustrie im Nordwestlichen Niedersachsen (MTV) in der Fassung vom 17.12.2018 regelt u.a. den Anspruch auf 30 Urlaubstage. Am 6.11.2019 trafen die Parteien eine "Freistellungsvereinbarung im Rahmen des Lebensarbeitszeitkontos - A Invest for Life Wertkontensystem zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit".
In der Zeit vom 26.11.2019 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 31.3.2020 war der Kläger krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses galt die Beklagte sieben Arbeitstage Urlaub ab und zahlte an den Kläger die hierauf entfallende zusätzliche Urlaubsvergütung. Der Kläger verlangte allerdings die Abgeltung von weiteren 28 Urlaubstagen und Zahlung zusätzlicher Urlaubsvergütung. Er war der Ansicht, ihm stehe für 2020 ein Anspruch auf den vollen tariflichen Jahresurlaub zzgl. des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen zu. Der Tarifbegriff "gearbeitet" i.S.d. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV verlange nicht, dass tatsächlich Arbeitsleistung erbracht worden sei. Es genüge, dass ein langjährig beschäftigter Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung verpflichtet gewesen sei.
Das Arbeitsgericht hat die auf Urlaubsabgeltung i.H.v. 11.660 € gerichtete Klage abgewiesen. Das hat LAG die Beklagte - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - zur Zahlung von Urlaubsabgeltung und zusätzlicher Urlaubsvergütung für 15 Arbeitstage i.H.v. insgesamt 6.246 € brutto verurteilt. Auf die Revision der Beklagten hat das BAG den Betrag auf 937 € reduziert.
Die Gründe:
Dem Kläger stehen die von ihm reklamierten Zahlungsansprüche nicht für die ihm durch das LAG zugesprochenen 15 Urlaubstage, sondern lediglich für 2,25 Urlaubstage zu.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz sind Arbeitstage, an denen ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt und zugleich von der Arbeitspflicht freigestellt ist, nicht als "gearbeitet" i.S.d. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV zu werten. Das ergibt sich aus der Auslegung der Tarifnorm. Danach gelten bei gesetzeskonformem Verständnis des Begriffs "gearbeitet" in § 10 Nr. 4.4 MTV Zeiten der Inanspruchnahme von Urlaub als Arbeitsleistung, nicht aber Zeiten der Arbeitsunfähigkeit während der Freistellung von der Arbeitspflicht während eines Modells zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Der Wortlaut der Tarifnorm verlangt für das Entstehen des Anspruchs auf Mehrurlaub eine Arbeitsleistung im Austrittsjahr. Gem. § 10 Nr. 4.1.3 MTV haben Arbeitnehmer bei Ausscheiden nach erfüllter Wartezeit Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses. Davon abweichend erhält ein ausscheidender Beschäftigter nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV den vollen Jahresurlaub, sofern er wegen der Inanspruchnahme einer Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente ausscheidet und dem Betrieb zehn Jahre ununterbrochen angehört hat, jedoch höchstens so viele Tage, wie er im Urlaubsjahr "gearbeitet" hat.
Systematisch handelt es sich bei § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV damit um eine privilegierende Spezialnorm für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer. Diese erhalten im Falle eines Ausscheidens wegen Inanspruchnahme von Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente im Ausscheidensjahr statt eines bloßen Teilurlaubsanspruchs den vollen Jahresurlaub, sofern im Austrittsjahr eine Arbeitsleistung erbracht wird. Voll- statt Teilurlaub soll nur Arbeitnehmern zugutekommen, bei denen im Jahr des Ausscheidens keine erhebliche Störung des Austauschverhältnisses von Leistung und Gegenleistung eingetreten ist. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ist aber in einer dem Anspruch auf den vollen Jahresurlaub nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV entgegenstehenden Weise gestört, wenn der Arbeitnehmer im Austrittsjahr durchgängig arbeitsunfähig und daher nicht in der Lage ist, eine Arbeitsleistung zu erbringen. Auch eine vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit vereinbarte Freistellung von der Arbeitspflicht ändert nichts daran, dass der Arbeitnehmer im Austrittsjahr keine Arbeitsleistung erbringt und auch nicht erbringen kann.
Die weitergehende Auslegung, auch Zeiten einer Freistellung von der Arbeitspflicht bei gleichzeitig bestehender Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers als "gearbeitet" i.S.v. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV anzusehen, verlangt das Gesetz nicht. Eine Freistellung von der Arbeitspflicht im Rahmen eines "Modells zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit" steht nicht Zeiten tatsächlich geleisteter Arbeit gleich. Da dem Kläger bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31.3.2020 ein Anspruch von 9,25 Urlaubstagen zustand, der ihm wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr gewährt werden konnte, und die Beklagte bisher Abgeltung für lediglich sieben Urlaubstage geleistet hat, besteht nach § 7 Abs. 4 BUrlG noch ein Abgeltungsanspruch für 2,25 Urlaubstage.
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