Vorlage an das BVerfG: Sind auch die neuen Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig?
SG Berlin 25.4.2012, S 55 AS 9238/12Bei den Klägern handelt es sich um eine dreiköpfige Familie, die Hartz-IV-Leistungen bezieht. Ihnen waren für den letzten umstrittenen Zeitraum Januar bis Juli 2012 nach Anrechnung von Einkünften aus Erwerbsminderungsrente, Kindergeld und Erwerbseinkommen Leistungen von insgesamt 439,10 Euro bewilligt worden. Das Jobcenter hatte der Leistungsberechnung den gesetzlichen Regelbedarf von 2 x 337 Euro für die Eltern und 287 Euro für den 16-jährigen Sohn zuzüglich Kosten für Unterkunft und Heizung zugrunde gelegt.
Mit ihrer Klage machten die Kläger geltend, dass sie mit den bewilligten Leistungen ihre Ausgaben nicht decken könnten. Trotz größter Sparsamkeit müssten sie regelmäßig ihren Dispokredit und Privatdarlehen in Anspruch nehmen. Das SG setzte das Verfahren aus und legte dem BVerfG die Frage der Verfassungsmäßigkeit des aktuellen Regelsatzes zur Entscheidung vor.
Die Gründe:
Die Vorschriften zur Höhe des Regelsatzes (§§ 19, 20, 28 SGB II) verstoßen gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Im Ergebnis sind die Leistungen für einen Alleinstehenden um monatlich rund 36 Euro und für eine dreiköpfige Familie (Eltern und 16-jähriger Sohn) um monatlich rund 100 Euro zu niedrig bemessen.
Es ist zwar nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber in Umsetzung des BVerfG-Urteils vom 9.2.2010 (Az.: 1 BvL 1/09) zur Bemessung des Existenzminimums ein Statistikmodell verwandt hat, das auf einer Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 (EVS 2008) beruht.
Bereits die Auswahl der unteren 15 % der Alleinstehenden als Referenzgruppe ist jedoch mit massiven Fehlern behaftet. Sie ist ohne nachvollziehbare Wertung und damit willkürlich erfolgt. Es ist nicht begründet worden, wie aus dem Ausgabeverhalten dieser Gruppe auf eine Bedarfsdeckung der Leistungsberechtigten geschlossen werden kann, zumal die Referenzgruppe u.a. auch Haushalte von Erwerbstätigen mit "aufstockendem" Bezug von existenzsichernden Leistungen sowie Studenten im BAföG-Bezug und Fälle "versteckter Armut" enthält.
Auch die im Anschluss an die statistische Bedarfsermittlung vorgenommenen Kürzungen sind jedenfalls hinsichtlich der Positionen Verkehr, Mahlzeiten in Restaurants/Cafés und Kantinen, Ausgaben für alkoholische Getränke, Schnittblumen und chemische Reinigung nicht nachvollziehbar begründet. Der Gesetzgeber verkennt insoweit, dass das Existenzminimum auch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen ermöglichen muss.
Der Hintergrund:
Das BVerfG hatte bereits mit Urteil vom 9.2.2010 (Az.: 1 BvL 1/09 u.a.) entschieden, dass die damaligen Regelleistungen nach dem SGB II verfassungswidrig waren. Gleichzeit hatte es dem Gesetzgeber aufgegeben, bis zum 31.12.2010 eine Neuregelung zu treffen, was inzwischen erfolgt ist. Ob auch diese Neuregelung gegen das Grundgesetz und insbesondere gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstößt, hat das BVerfG nunmehr zu klären.
Der vorliegende Beschluss der 55. Kammer des SG Berlin ist der deutschlandweit erste Vorlagebeschluss an das BVerfG in dieser Sache. Weitere Entscheidungen, die von der Verfassungswidrigkeit des aktuellen Regelsatzes ausgehen, sind bisher nicht bekannt. Ausdrücklich bejaht hat die Verfassungsmäßigkeit des Regelsatzes unter Verweis auf entsprechende Urteile der LSG Bayern und Baden-Württemberg zum Beispiel die 18. Kammer des SG Berlin (Urt. v. 29.3.2012 - S 18 AS 38234/10).