"Whistleblowing" kann von Meinungsfreiheit gedeckt sein - Deutschland muss gekündigte Altenpflegerin entschädigen
EGMR 21.7.2011, Beschwerde-Nr. 28274/08Die Antragstellerin war in einem Altenpflegeheim, das dem Land Berlin gehört, als Altenpflegerin beschäftigt. Sie hatte sich bereits in den Jahren 2003 und 2004 beim Pflegeheimbetreiber beschwert, dass es zu wenig Personal gebe und daher nicht alle Aufgaben ordnungsgemäß erfüllt werden könnten. Die Dienstleistungen würden zudem nicht ordnungsgemäß dokumentiert. Eine Ende 2003 vom medizinischen Dienst der Krankenkassen durchgeführte Inspektion kam zu einem ähnlichen Ergebnis und stellte gravierende Pflegemängel fest.
Ende 2004 erstattete die Klägerin Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber wegen Betrugs. Das Pflegeheim täusche in seiner Werbung eine qualitativ hochwertige Versorgung vor und lasse sich diese bezahlen, erbringe diese Leistung aber tatsächlich nicht. Der Arbeitgeber reagierte hierauf mit einer fristlosen Kündigung der Antragstellerin. Die hiergegen gerichtete Klage hatte vor den deutschen Arbeitsgerichten in allen Instanzen keinen Erfolg.
Das EGMR verurteilte Deutschland, an die Antragstellerin eine Entschädigung i.H.v. insgesamt 15.000 Euro zu zahlen.
Die Gründe:
Die fristlose Kündigung der Antragstellerin verstößt gegen die durch Art. 10 EMRK geschützte Freiheit der Meinungsäußerung. Sogenanntes "Whistleblowing", das öffentliche Bekanntmachen von Missständen beim Arbeitgeber, fällt in den Anwendungsbereich von Art. 10 EMRK. Die Kündigung eines "Whistleblowers" stellt demnach einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung dar.
Vorliegend war dieser Eingriff nicht gerechtfertigt. Die Vorwürfe, die die Antragstellerin gegen ihren Arbeitgeber erhoben hat, haben zwar eine rufschädigende Wirkung für das Unternehmen. Das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der institutionellen Altenpflege wiegt aber so schwer, dass dahinter die Interessen des Unternehmens am Schutz seines Rufs und seiner Geschäftsinteressen zurücktreten muss.
Im Streitfall kommt erschwerend hinzu, dass die Antragstellerin den Arbeitgeber mehrmals ohne Erfolg auf die Missstände hingewiesen hatte, bevor sie mit den Vorwürfen an die Öffentlichkeit gegangen war. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sie wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hat. Daher war die fristlose Kündigung der Antragstellerin unverhältnismäßig und hätte nicht von den deutschen Arbeitsgerichten bestätigt werden dürfen.
Linkhinweis:
Für den auf den Webseiten des EGMR veröffentlichen Volltext der Entscheidung (englisch) klicken Sie bitte hier.
Mehr zum Thema:
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