Zur Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nach dem Verlust der Eignung für seine Aufgaben
EuGH, C-485/20: Schlussanträge des Generalanwalts vom 11.11.2021
Der Sachverhalt:
Die öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft HR Rail stellt Personal ein, das für die Erfüllung der Aufgaben der Nationalen belgische Eisenbahngesellschaft (SNCB) benötigt wird. Im November 2016 nahm ein Facharbeiter für die Wartung der Schienenwege, den HR Rail eingestellt hatte, seine Probezeit bei Infrabel auf. Im Dezember 2017 wurde bei dem Probebeschäftigten ein Herzproblem diagnostiziert, das das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte. Dieser reagiert auf elektromagnetische Felder, wie sie u.a. von Eisenbahnschienen ausgehen, empfindlich. Der Beschäftigte wurde daher vom Föderalen Öffentlichen Dienst Soziale Sicherheit in Belgien als behindert anerkannt.
Als Folge des Ergebnisses einer ärztlichen Untersuchung erklärte HR Rail den Beschäftigten für endgültig ungeeignet, die Aufgaben, für die er eingestellt worden war, zu erfüllen, und verwendete ihn auf der Stelle eines Lageristen bei Infrabel. Am 26.9.2018 teilte der Leitende Berater der betreffenden Dienststelle von HR Rail dem Beschäftigten seine Entlassung zum 30.9.2018 mit, und zwar mit einem für die Dauer von fünf Jahren geltenden Verbot einer Wiedereinstellung in der Besoldungsgruppe, in der er eingestellt worden war. Am 26.10.2018 teilte der Generaldirektor von HR Rail dem Beschäftigten mit, dass die Probezeit eines Mitarbeiters, der endgültig für völlig untauglich erklärt wird, beendet werde, wenn er nicht mehr in der Lage sei, die mit seinem Dienstgrad verbundenen Aufgaben wahrzunehmen. Der Beschäftigte beantragte die Aufhebung der Entscheidung, ihn zu entlassen.
Der mit der Sache befasste Staatsrat in Belgien legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob der Arbeitgeber in einer solchen Situation gemäß der Richtlinie 2000/78/EG für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und zur Vermeidung jeglicher Diskriminierung wegen einer Behinderung verpflichtet war, den Beschäftigten, anstatt ihn zu entlassen, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, für den er kompetent, fähig und verfügbar war.
Die Gründe:
Ein Arbeitgeber ist im Rahmen der im Unionsrecht vorgesehenen angemessenen Vorkehrungen verpflichtet, einen Arbeitnehmer - auch einen solchen, der im Rahmen seiner Einstellung eine Probezeit absolviert -, der wegen des Eintritts einer Behinderung endgültig ungeeignet ist, den bisherigen Arbeitsplatz im Unternehmen einzunehmen, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden. Dies gilt jedenfalls, sofern er die erforderliche Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit besitzt und diese Maßnahme keine unverhältnismäßige Belastung für den Arbeitgeber darstellt.
Der Kläger hat eine dauerhafte Einschränkung seiner Fähigkeiten erlitten, die auf körperliche Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können. Deshalb ist er als "Mensch mit Behinderung" im Sinne der Richtlinie einzustufen. Zudem befindet sich eine Person, die im Rahmen ihrer Einstellung eine Probezeit absolviert, in einer schwächeren Position als eine Person, die einen festen Arbeitsplatz innehat. Für sie ist es schwieriger, eine andere Beschäftigung zu finden, wenn sie bei Eintritt einer Behinderung zur Besetzung der Stelle nicht mehr geeignet ist, zumal wenn sie am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn steht. Deshalb ist es gerechtfertigt, einem solchen Probezeitbeschäftigten den Schutz vor Diskriminierungen zu gewährleisten. Der Beschäftigte hat im Rahmen seiner Probezeit eine tatsächliche und echte Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zugunsten und nach Weisung eines Arbeitgebers ausgeübt und ist daher als Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts einzustufen.
Dem Begriff der "angemessenen Vorkehrungen" liegt die Überlegung zugrunde, einen gerechten Ausgleich zwischen den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen und denen des Arbeitgebers zu schaffen. Die entsprechende Richtlinienbestimmung beschränkt die getroffenen Maßnahmen nicht auf den von dem Arbeitnehmer mit Behinderung besetzten Arbeitsplatz. Der Zugang zu einer Beschäftigung und zu Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen lässt vielmehr die Möglichkeit einer Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz offen. Deshalb ist im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH der Begriff "angemessene Vorkehrungen" weit auszulegen und dahin zu verstehen, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasst, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behindern.
Menschen mit Behinderung sollten so weit wie möglich weiterbeschäftigt werden, anstatt sie wegen mangelnder Eignung zu entlassen. Dies sollte grundsätzlich nur der letzte Ausweg sein. Allerdings setzt die Verwendung eines Arbeitnehmers mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens voraus, dass er kompetent, fähig und verfügbar ist, die wesentlichen Funktionen dieses neuen Arbeitsplatzes zu erfüllen. Außerdem dürfen die angemessenen Vorkehrungen den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belasten. Dabei sind insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle und sonstige Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Die Möglichkeit, einen Arbeitnehmer mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, bezieht sich auf den Fall, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende Arbeitnehmer einnehmen kann, damit dem Arbeitgeber keine unverhältnismäßige Belastung auferlegt wird.
Mehr zum Thema:
EuGH PM Nr. 202 vom 11.11.2021
Die öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft HR Rail stellt Personal ein, das für die Erfüllung der Aufgaben der Nationalen belgische Eisenbahngesellschaft (SNCB) benötigt wird. Im November 2016 nahm ein Facharbeiter für die Wartung der Schienenwege, den HR Rail eingestellt hatte, seine Probezeit bei Infrabel auf. Im Dezember 2017 wurde bei dem Probebeschäftigten ein Herzproblem diagnostiziert, das das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte. Dieser reagiert auf elektromagnetische Felder, wie sie u.a. von Eisenbahnschienen ausgehen, empfindlich. Der Beschäftigte wurde daher vom Föderalen Öffentlichen Dienst Soziale Sicherheit in Belgien als behindert anerkannt.
Als Folge des Ergebnisses einer ärztlichen Untersuchung erklärte HR Rail den Beschäftigten für endgültig ungeeignet, die Aufgaben, für die er eingestellt worden war, zu erfüllen, und verwendete ihn auf der Stelle eines Lageristen bei Infrabel. Am 26.9.2018 teilte der Leitende Berater der betreffenden Dienststelle von HR Rail dem Beschäftigten seine Entlassung zum 30.9.2018 mit, und zwar mit einem für die Dauer von fünf Jahren geltenden Verbot einer Wiedereinstellung in der Besoldungsgruppe, in der er eingestellt worden war. Am 26.10.2018 teilte der Generaldirektor von HR Rail dem Beschäftigten mit, dass die Probezeit eines Mitarbeiters, der endgültig für völlig untauglich erklärt wird, beendet werde, wenn er nicht mehr in der Lage sei, die mit seinem Dienstgrad verbundenen Aufgaben wahrzunehmen. Der Beschäftigte beantragte die Aufhebung der Entscheidung, ihn zu entlassen.
Der mit der Sache befasste Staatsrat in Belgien legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob der Arbeitgeber in einer solchen Situation gemäß der Richtlinie 2000/78/EG für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und zur Vermeidung jeglicher Diskriminierung wegen einer Behinderung verpflichtet war, den Beschäftigten, anstatt ihn zu entlassen, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, für den er kompetent, fähig und verfügbar war.
Die Gründe:
Ein Arbeitgeber ist im Rahmen der im Unionsrecht vorgesehenen angemessenen Vorkehrungen verpflichtet, einen Arbeitnehmer - auch einen solchen, der im Rahmen seiner Einstellung eine Probezeit absolviert -, der wegen des Eintritts einer Behinderung endgültig ungeeignet ist, den bisherigen Arbeitsplatz im Unternehmen einzunehmen, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden. Dies gilt jedenfalls, sofern er die erforderliche Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit besitzt und diese Maßnahme keine unverhältnismäßige Belastung für den Arbeitgeber darstellt.
Der Kläger hat eine dauerhafte Einschränkung seiner Fähigkeiten erlitten, die auf körperliche Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können. Deshalb ist er als "Mensch mit Behinderung" im Sinne der Richtlinie einzustufen. Zudem befindet sich eine Person, die im Rahmen ihrer Einstellung eine Probezeit absolviert, in einer schwächeren Position als eine Person, die einen festen Arbeitsplatz innehat. Für sie ist es schwieriger, eine andere Beschäftigung zu finden, wenn sie bei Eintritt einer Behinderung zur Besetzung der Stelle nicht mehr geeignet ist, zumal wenn sie am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn steht. Deshalb ist es gerechtfertigt, einem solchen Probezeitbeschäftigten den Schutz vor Diskriminierungen zu gewährleisten. Der Beschäftigte hat im Rahmen seiner Probezeit eine tatsächliche und echte Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zugunsten und nach Weisung eines Arbeitgebers ausgeübt und ist daher als Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts einzustufen.
Dem Begriff der "angemessenen Vorkehrungen" liegt die Überlegung zugrunde, einen gerechten Ausgleich zwischen den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen und denen des Arbeitgebers zu schaffen. Die entsprechende Richtlinienbestimmung beschränkt die getroffenen Maßnahmen nicht auf den von dem Arbeitnehmer mit Behinderung besetzten Arbeitsplatz. Der Zugang zu einer Beschäftigung und zu Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen lässt vielmehr die Möglichkeit einer Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz offen. Deshalb ist im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH der Begriff "angemessene Vorkehrungen" weit auszulegen und dahin zu verstehen, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasst, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behindern.
Menschen mit Behinderung sollten so weit wie möglich weiterbeschäftigt werden, anstatt sie wegen mangelnder Eignung zu entlassen. Dies sollte grundsätzlich nur der letzte Ausweg sein. Allerdings setzt die Verwendung eines Arbeitnehmers mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens voraus, dass er kompetent, fähig und verfügbar ist, die wesentlichen Funktionen dieses neuen Arbeitsplatzes zu erfüllen. Außerdem dürfen die angemessenen Vorkehrungen den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belasten. Dabei sind insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle und sonstige Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Die Möglichkeit, einen Arbeitnehmer mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, bezieht sich auf den Fall, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende Arbeitnehmer einnehmen kann, damit dem Arbeitgeber keine unverhältnismäßige Belastung auferlegt wird.
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