Zuständigkeit der Arbeitsgerichte: "Sic-non-Fall" bei Verwendung des Begriffs "Arbeitsverhältnis" im Kündigungsschutzantrag?
Hessisches LAG v. 13.1.2023 - 10 Ta 3/23
Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten über die Frage, ob der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen eröffnet ist. Die Klägerin arbeitete bei der Beklagten seit 2006 zunächst als Angestellte. Mitte 2013 war die Klägerin zur Geschäftsführerin der Beklagten berufen worden. Ende Januar 2022 wurde ihr gekündigt, nachdem sie bereits mit Wirkung zum 2. September 2021 als Geschäftsführerin abberufen worden war.
Hiergegen erhob sie Kündigungsschutzklage vor dem ArbG. Die Klägerin hat gemeint, der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen sei eröffnet. Seit 2006 habe ein Arbeitsverhältnis zu der Beklagten bestanden. Die reine Bestellung und/oder Abberufung als Geschäftsführerin beende grundsätzlich ein Anstellungsverhältnis nicht. Ein solches müsse zur Beendigung gekündigt werden. Erbringe der Arbeitnehmer nach Abberufung weiterhin Tätigkeiten für den Arbeitgeber, gelte er als normaler Angestellter.
Das ArbG beschloss, dass der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen nicht eröffnet sei und verwies das Verfahren an das LG. Das LAG hat die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde der Klägerin zurückgewiesen. Die Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen.
Die Gründe:
Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist nicht eröffnet. Gegenstand des Verfahrens ist nicht eine Streitigkeit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a bzw. b ArbGG. Das ArbG hat mit Recht eine Verweisung des Rechtsstreits an das LG angenommen.
Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist nicht bereits nach § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG ausgeschlossen, weil die Klägerin Organvertreterin war. Die Klägerin ist mit Wirkung zum 2. September 2021 als Geschäftsführerin abberufen worden. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Rechtswegfrage greift die negative Fiktion der Norm nicht (mehr) ein. Außerhalb der Fiktionswirkung des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG kommt es darauf an, ob nach allgemeinen Grundsätzen von einer Rechtswegzuständigkeit des Arbeitsgerichts auszugehen ist.
Die Gerichte für Arbeitssachen sind nicht zuständig für den Kündigungsschutzantrag gegen die fristlose Kündigung vom 31. Januar 2022 gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b ArbGG:
Die Fallgruppen "sic non", "aut" und "et" hat die Rechtsprechung im Hinblick auf die Frage entwickelt, welche Anforderungen an das klägerische Vorbringen zur Begründung der Rechtswegzuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen in Abgrenzung zu den ordentlichen Gerichten zu stellen sind. Ein sog. "Sic-non-Fall" liegt vor, wenn die Klage nur dann begründet sein kann, wenn das Rechtsverhältnis als Arbeitsverhältnis einzuordnen ist und nach wirksamer Beendigung der Organstellung als solches fortbestand oder wiederauflebte. In diesem Fall eröffnet bei streitiger Tatsachengrundlage die bloße Rechtsansicht der Klagepartei, es handele sich um ein Arbeitsverhältnis, den Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen.
In der Vergangenheit hat das BAG einen "Sic-non-Fall" auch dann angenommen, wenn der Kläger in dem Kündigungsschutzantrag formuliert hat, es möge festgestellt werden, dass das zwischen den Parteien bestehende "Arbeitsverhältnis" durch die im Streit stehende Kündigung nicht aufgelöst worden ist. Nach neuerer Sichtweise kommt es darauf an, ob eine Auslegung des Klageantrags ergibt, ob dieser auch unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses gerichtlich geltend gemacht werden sollte (vgl. BAG 21. Januar 2019 - 9 AZB 23/18).
Die Auslegung des Klageantrags ergibt im vorliegenden Fall, dass sich die Klägerin (lediglich) gegen die sofortige Beendigung des vermeintlichen Arbeitsverhältnisses infolge der Kündigung vom 31. Januar 2022 wenden möchte. Dies stellt keinen "Sic-non-Fall" dar, da § 626 BGB auch in einem freien Dienstverhältnis zur Anwendung kommt.
Liegt kein "Sic-non-Fall" vor, muss die Klägerin die tatsächlichen Voraussetzungen eines Arbeitsverhältnisses substantiiert und schlüssig behaupten. Die Voraussetzungen eines Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten hat die Klägerin im vorliegenden Fall aber nicht schlüssig dargelegt.
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Aufsatz:
Der Geschäftsführer als Arbeitnehmer 2.0?
Andrea Bonanni / Franziska Fehlberg, ArbRB 2023, 21
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Die Parteien streiten über die Frage, ob der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen eröffnet ist. Die Klägerin arbeitete bei der Beklagten seit 2006 zunächst als Angestellte. Mitte 2013 war die Klägerin zur Geschäftsführerin der Beklagten berufen worden. Ende Januar 2022 wurde ihr gekündigt, nachdem sie bereits mit Wirkung zum 2. September 2021 als Geschäftsführerin abberufen worden war.
Hiergegen erhob sie Kündigungsschutzklage vor dem ArbG. Die Klägerin hat gemeint, der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen sei eröffnet. Seit 2006 habe ein Arbeitsverhältnis zu der Beklagten bestanden. Die reine Bestellung und/oder Abberufung als Geschäftsführerin beende grundsätzlich ein Anstellungsverhältnis nicht. Ein solches müsse zur Beendigung gekündigt werden. Erbringe der Arbeitnehmer nach Abberufung weiterhin Tätigkeiten für den Arbeitgeber, gelte er als normaler Angestellter.
Das ArbG beschloss, dass der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen nicht eröffnet sei und verwies das Verfahren an das LG. Das LAG hat die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde der Klägerin zurückgewiesen. Die Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen.
Die Gründe:
Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist nicht eröffnet. Gegenstand des Verfahrens ist nicht eine Streitigkeit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a bzw. b ArbGG. Das ArbG hat mit Recht eine Verweisung des Rechtsstreits an das LG angenommen.
Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist nicht bereits nach § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG ausgeschlossen, weil die Klägerin Organvertreterin war. Die Klägerin ist mit Wirkung zum 2. September 2021 als Geschäftsführerin abberufen worden. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Rechtswegfrage greift die negative Fiktion der Norm nicht (mehr) ein. Außerhalb der Fiktionswirkung des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG kommt es darauf an, ob nach allgemeinen Grundsätzen von einer Rechtswegzuständigkeit des Arbeitsgerichts auszugehen ist.
Die Gerichte für Arbeitssachen sind nicht zuständig für den Kündigungsschutzantrag gegen die fristlose Kündigung vom 31. Januar 2022 gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b ArbGG:
Die Fallgruppen "sic non", "aut" und "et" hat die Rechtsprechung im Hinblick auf die Frage entwickelt, welche Anforderungen an das klägerische Vorbringen zur Begründung der Rechtswegzuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen in Abgrenzung zu den ordentlichen Gerichten zu stellen sind. Ein sog. "Sic-non-Fall" liegt vor, wenn die Klage nur dann begründet sein kann, wenn das Rechtsverhältnis als Arbeitsverhältnis einzuordnen ist und nach wirksamer Beendigung der Organstellung als solches fortbestand oder wiederauflebte. In diesem Fall eröffnet bei streitiger Tatsachengrundlage die bloße Rechtsansicht der Klagepartei, es handele sich um ein Arbeitsverhältnis, den Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen.
In der Vergangenheit hat das BAG einen "Sic-non-Fall" auch dann angenommen, wenn der Kläger in dem Kündigungsschutzantrag formuliert hat, es möge festgestellt werden, dass das zwischen den Parteien bestehende "Arbeitsverhältnis" durch die im Streit stehende Kündigung nicht aufgelöst worden ist. Nach neuerer Sichtweise kommt es darauf an, ob eine Auslegung des Klageantrags ergibt, ob dieser auch unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses gerichtlich geltend gemacht werden sollte (vgl. BAG 21. Januar 2019 - 9 AZB 23/18).
Die Auslegung des Klageantrags ergibt im vorliegenden Fall, dass sich die Klägerin (lediglich) gegen die sofortige Beendigung des vermeintlichen Arbeitsverhältnisses infolge der Kündigung vom 31. Januar 2022 wenden möchte. Dies stellt keinen "Sic-non-Fall" dar, da § 626 BGB auch in einem freien Dienstverhältnis zur Anwendung kommt.
Liegt kein "Sic-non-Fall" vor, muss die Klägerin die tatsächlichen Voraussetzungen eines Arbeitsverhältnisses substantiiert und schlüssig behaupten. Die Voraussetzungen eines Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten hat die Klägerin im vorliegenden Fall aber nicht schlüssig dargelegt.
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Andrea Bonanni / Franziska Fehlberg, ArbRB 2023, 21
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