§ 66 Abs. 3 EStG ist als Regelung des Festsetzungsverfahrens anzusehen
Niedersächsisches FG 25.10.2018, 10 K 141/18Zwischen den Beteiligten ist die Auszahlung von Kindergeld für den Zeitraum August 2015 bis September 2017 streitig. Im April 2015 beantragte der Kläger bei der beklagten Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für seine Tochter. Der Kläger gab an, dass die Tochter im Juli 2015 eine Ausbildung abschließen werde und ab September 2015 eine dreijährige Ausbildung zur Erzieherin begänne. Die Familienkasse setzte Kindergeld für den Zeitraum ab März 2015 fest und hob die Festsetzung ab August 2015 auf, da trotz Aufforderung nicht nachgewiesen wurde, dass sich das Kind weiterhin in Ausbildung befand.
Mit Antrag von Oktober 2017, der erst im März 2018 bei der Beklagten einging, begehrte der Kläger die Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum August 2015 bis August 2019. Die Familienkasse setzte Kindergeld ab dem Monat August 2015 fest, beschränkte jedoch die Auszahlung für den Zeitraum ab Oktober 2017, da der Kindergeldantrag verspätet gestellt worden sei.
Der Kläger begehrt hingegen die vollständige Auszahlung des Kindergelds, da er aufgrund von Krankheit nicht in der Lage gewesen sei, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Er legte Unterlagen vor, aus denen hervorgeht, dass er an einer depressiven Störung bzw. Angststörung sowie dem Burnout-Syndrom litt, nachdem er im April 2016 einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. In den folgenden Monaten unterzog sich der Kläger diversen Behandlungen und Therapien. Ab Januar 2017 führte er eine stufenweise Wiedereingliederung durch und war ab März 2017 wieder arbeitsfähig.
Das FG gab der Klage statt. Die Revision zum BFH wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache und zur Fortbildung des Rechts zugelassen.
Die Gründe:
Die Familienkasse hat das ab August 2015 festgesetzte Kindergeld für den Zeitraum August 2015 bis September 2017 zu Unrecht als nicht auszahlbar angesehen. Sie hat das Kindergeld in voller Höhe auszuzahlen und kann die Auszahlung nicht unter Berufung auf § 66 Abs. 3 EStG begrenzen.
§ 66 Abs. 3 EStG normiert, dass das Kindergeld rückwirkend nur für sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt wird, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Die Norm gilt für Anträge, die nach dem 31.12.2017 eingehen (§ 52 Abs. 49a S. 7 EStG). Zwar liegen die Voraussetzungen dieser Vorschrift vor, jedoch wäre in der Rechtsfolge bereits die Festsetzung des Kindergelds abzulehnen gewesen. Eine Einschränkung (allein) des Auszahlungsanspruchs ergibt sich aus der Vorschrift nicht. Dem steht nicht der Wille des Gesetzgebers entgegen, da sich dieser nicht eindeutig ermitteln lässt. Die Finanzverwaltung geht im Schreiben bzgl. des Familienleistungsausgleichs (BZSt-Schreiben vom 25.10.2017, BStBl I 2017, 1540) davon aus, dass § 66 Abs. 3 EStG nicht das Festsetzungsverfahren betrifft. Jedoch sind die Ausführungen des Schreibens in sich widersprüchlich.
Eine Auslegung der Norm des § 66 Abs. 3 EStG unter Heranziehung ihrer Stellung im Gesetz führt dazu, die Regelung dem Festsetzungsverfahren zuzuordnen. Dieser Ansicht steht auch die Wortwahl des Gesetzgebers, der teilweise im Rahmen der materiellen Reglungen von Zahlung des Kindergelds spricht, nicht entgegen. Zweifelsohne regelt § 66 Abs. 2 EStG, wann der Anspruch auf die Steuervergütung entsteht (Festsetzungsverfahren) und nicht ob sie auszuzahlen ist (Erhebungsverfahren). Folglich kann sich auch der Begriff der Zahlung in § 66 Abs. 3 EStG sinnvollerweise nur auf das Festsetzungs- und nicht das Erhebungsverfahren beziehen.
Die Verwendung des Wortes "gezahlt" muss unter Berücksichtigung von systematischen Erwägungen in beiden Absätzen die gleiche Bedeutung haben und kann sich nicht in Abs. 2 auf das Festsetzungsverfahren und in Abs. 3 auf das Erhebungsverfahren beziehen. Aus dem Gesetzeswortlaut lässt sich eine Zugehörigkeit des § 66 Abs. 3 EStG zum Erhebungsverfahren daher nicht ableiten. Zweifelsohne sind die §§ 64 und 65 EStG dem Festsetzungsverfahren zuzuordnen, auch wenn dort der Begriff "gezahlt" verwendet wird, so dass allein das Wort "gezahlt" in § 66 Abs. 3 EStG keine Zugehörigkeit zum Erhebungsverfahren begründet.
Diese Auffassung wird zudem von der Rechtsprechung des BFH zur alten Fassung des § 66 Abs. 3 EStG gestützt. Die jetzige Fassung des § 66 Abs. 3 EStG ist mit der bis einschließlich 1997 geltenden Fassung wortgleich. Der BFH hat in ständiger Rechtsprechung zu der damaligen Vorschrift (vgl. u.a. BFH 24.10.2000, VI R 65/99 und BFH 13.9.2012, V R 59/10) entschieden, dass sie den Kindergeldanspruch materiell-rechtlich ausschließe. Folglich handelte es sich nach Ansicht des BFH bei der alten Vorschrift um eine Vorschrift des Festsetzungsverfahrens. Ein anderes Verständnis der neuen Fassung des § 66 Abs. 3 EStG ist im Hinblick auf die alte Rechtsprechung zu einer identischen Regelung nicht angebracht.
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