04.08.2022

Ausschluss ausländischer Staatsangehöriger mit humanitären Aufenthaltstiteln vom Kindergeld verfassungswidrig

§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 2006 verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Das BVerfG hat die Vorschrift auf Vorlage eines FG daher für nichtig erklärt.

BVerfG v. 28.6.2022 - 2 BvL 9/14 u.a.
Hintergrund:
Die vorgelegte Vorschrift sieht vor, dass Staatsangehörige der meisten Nicht-EU-Staaten, denen der Aufenthalt in Deutschland aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt ist, nur dann einen Anspruch auf Kindergeld haben, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten und zusätzlich bestimmte Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllen, das heißt entweder im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind, Arbeitslosengeld I beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen. Nach Einleitung des Vorlageverfahrens wurde § 62 Abs. 2 EStG mit Wirkung zum 1.3.2020 geändert. Nach dem in die Vorschrift neu eingefügten § 62 Abs. 2 Nr. 4 EStG erhält ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer Kindergeld, wenn er einen der in Nr. 2 Buchst. c genannten humanitären Aufenthaltstitel besitzt und sich seit mindestens 15 Monaten erlaubt, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält; auf eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt kommt es in dieser Variante nicht mehr an.

Der Sachverhalt:
Nach § 62 Abs. 2 EStG in der Fassung des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13.12.2006 (EStG 2006) ist die Gewährung von Kindergeld an nicht freizügigkeitsberechtigte ausländische Staatsangehörige davon abhängig, über welche Art von Aufenthaltstitel sie verfügen. Ausländer, die eine (stets unbefristete) Niederlassungserlaubnis besitzen, haben einen Anspruch auf Kindergeld (§ 62 Abs. 2 Nr. 1 EStG 2006). Demgegenüber haben Ausländer, denen lediglich eine (befristete) Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, nur dann einen Kindergeldanspruch, wenn die erteilte Aufenthaltserlaubnis eine Erwerbstätigkeit erlaubt oder erlaubt hat (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG 2006).

Demgegenüber haben nicht freizügigkeitsberechtigte ausländische Staatsangehörige, denen der Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt ist (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c EStG 2006), regelmäßig keinen Anspruch auf Kindergeld. Sie sind nur ausnahmsweise anspruchsberechtigt, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe a EStG 2006) und eines der in § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 genannten Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllen. Mit Beschluss vom 10.7.2012 (BVerfGE 132, 72) hatte das BVerfG in einem früheren Verfahren festgestellt, dass die mit § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 2006 wortgleichen Regelungen des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BEEG) und des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BErzGG) gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verstoßen und nichtig sind.

In den vier Ausgangsverfahren (2 BvL 9/14, 2 BvL 14/14, 2 BvL 13/14, 2 BvL 10/14) machen nicht freizügigkeitsberechtigte ausländische Eltern mit Wohnsitz im Inland Ansprüche auf Kindergeld geltend. Alle Anträge wurden abgelehnt, weil zwar ein Aufenthaltstitel i.S.d. § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c EStG 2006 vorliege, die zusätzlich erforderlichen Merkmale der Arbeitsintegration (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006) jedoch nicht erfüllt seien. Hiergegen reichten die Betroffenen jeweils Klage beim FG ein. Dieses hat die Verfahren ausgesetzt und gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem BVerfG die Frage zur Prüfung vorgelegt, ob § 62 Abs. 2 EStG 2006 verfassungswidrig sei.

Die Gründe:
Die Vorlagen sind zulässig, soweit sie § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 betreffen. Soweit das Vorlagegericht darüber hinaus ausdrücklich § 62 Abs. 2 EStG 2006 insgesamt mit den dort erfassten zusätzlichen Fallgruppen zur verfassungsrechtlichen Prüfung stellt, sind sie hingegen unzulässig, weil es auf diese Fallgruppen für die vorliegenden Fälle nicht ankommt.

§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 ist formell verfassungsmäßig, insbesondere besteht eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 105 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 GG. Soweit das Kindergeld nach § 31 Satz 2 EStG nicht der steuerlichen Freistellung des kindbedingten Existenzminimums, sondern der Förderung der Familie dient, handelt es sich dabei zwar für sich genommen nicht um eine materiell steuerrechtliche, sondern um eine sozialrechtliche Regelung. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes auch für den Förderanteil des Kindergeldes folgt aber jedenfalls aus dem kompetenzbegründenden Schwerpunkt des steuerrechtlichen Familienleistungsausgleichs.

§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 2006 ist materiell verfassungswidrig. Die Vorschrift verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG und ist daher nichtig. Die Regelung bewirkt eine Ungleichbehandlung zwischen zwei Teilgruppen von Ausländern mit humanitärem Aufenthaltstitel nach den §§ 23 Abs. 1, 23a, 24 oder 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG, die sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten: Einen Anspruch auf Kindergeld haben nur diejenigen, die zusätzlich zu diesen Merkmalen im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind oder es nur vorübergehend nicht sind, weil sie Arbeitslosengeld I beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen. Wer hingegen - wie die Klägerinnen und der Kläger der Ausgangsverfahren - keines dieser Merkmale aufweist, erhält kein Kindergeld. Diese Ungleichbehandlung entfällt insbesondere nicht dadurch, dass das Fehlen eines Kindergeldanspruchs im Regelfall durch den Anspruch auf Sozialleistungen kompensiert wird. Denn auch in diesem Fall kann es zu einer wirtschaftlichen Schlechterstellung derjenigen Ausländer kommen, die keinen Kindergeldanspruch haben. Dies gilt auch für den Fall, dass die Betroffenen über eigenes Vermögen verfügen und daher - trotz fehlenden Erwerbseinkommens - keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben.

Die Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt. Zwar verfolgt der Gesetzgeber mit § 62 Abs. 2 EStG 2006 einen legitimen Zweck. Die Regelung hat das Ziel, Kindergeld nur solchen Personen zukommen zu lassen, die sich voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten werden. Diese Unterscheidung nach der prognostizierten Bleibedauer in Deutschland kann eine ungleiche Behandlung grundsätzlich rechtfertigen. Die vom Gesetzgeber gewählten Differenzierungskriterien bestimmen den Kreis der Leistungsberechtigten jedoch nicht in geeigneter Weise. Ungeeignet, die zuverlässige Prognose eines dauerhaften Aufenthalts zu begründen und damit das gesetzgeberische Ziel zu erreichen, ist vor allem das Kriterium einer Integration in den Arbeitsmarkt (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006). Zwar mag die vom Gesetzgeber als zusätzliches Indiz für eine dauerhafte Bleibeperspektive gewertete Integration in den deutschen Arbeitsmarkt in vielen Fällen den Schluss tragen, dass die Betroffenen sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten werden. Der für die vorgelegte Vorschrift maßgebliche Umkehrschluss, dass ohne eine Erwerbstätigkeit eine solche Prognose nicht möglich sei, ist indes nicht begründbar.

Gerade bei humanitären Aufenthaltstiteln erscheint eine Korrelation zwischen einer Erwerbstätigkeit und der voraussichtlichen Aufenthaltsdauer weniger plausibel als etwa in Fällen einer gezielten Zuwanderung zum Zwecke der Ausbildung und nachfolgenden Erwerbstätigkeit. Denn die Aufenthaltsdauer hängt bei den meisten humanitären Aufenthaltstiteln stärker von der Situation in den Herkunftsstaaten der Betroffenen als von deren eigener Lebensplanung ab. Auch steht es der Aussicht auf einen unbefristeten Aufenthaltstitel nicht zwingend entgegen, wenn die in § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 genannten Kriterien im Zeitpunkt der Entscheidung nicht erfüllt sind. Zwar ist für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis Voraussetzung, dass der Lebensunterhalt gesichert ist (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Da dies jedoch zukunftsorientiert zu beurteilen ist, kommt es nicht darauf an, ob der Betroffene aktuell erwerbstätig ist, sondern ob angenommen werden kann, dass er dies in der Zukunft auf Dauer sein wird.

Die durch § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b in Verbindung mit Nr. 2 Buchstabe c EStG 2006 bewirkte Benachteiligung lässt sich auch nicht durch eine Befugnis des Gesetzgebers zur Typisierung rechtfertigen, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. Es spricht vielmehr vieles dafür, dass der Gesetzgeber sogar umgekehrt einen atypischen Fall als Leitbild gewählt hat. Für andere Differenzierungsgründe fehlt es an einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung für einen konkreten Förderungs- oder Lenkungszweck der im Schwerpunkt steuerrechtlichen Regelung.

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