Aussetzung der Vollziehung von auf § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG gestützten Bescheiden
KurzbesprechungFGO § 69 Abs. 3 Satz 1, § 69 Abs. 2 Satz 2, § 69 Abs. 2 Satz 3, § 128 Abs. 3
KStG § 8c Satz 1, § 8c Satz 2, § 8c Abs. 1 Satz 1
GG Art. 3 Abs. 1
Streitig war die Rechtmäßigkeit von Feststellungsbescheiden, in denen nicht genutzte Verluste aus Vorjahren bzw. Fehlbeträge aus früheren Erhebungszeiträumen wegen schädlichen Beteiligungserwerbs auf der Grundlage von § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG in der im Jahr 2016 (Streitjahr) geltenden Fassung unter Berücksichtigung der rückwirkenden Aufhebung des früheren Satzes 1 durch das Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 11.12.2018 (BGBl I 2018, 2338), dort § 34 Abs. 6 Satz 1 KStG, bzw. von § 10a Satz 10 GewStG i.V.m. § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG als nicht abziehbar qualifiziert worden sind. In der Sache geht es darum, ob die streitbefangenen Verlustfeststellungsbescheide wegen möglicher Verfassungswidrigkeit des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG von der Vollziehung auszusetzen sind.
Der BFH folgte dem FG dahingehend, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anwendung der den Belastungseffekt auslösenden Norm des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG im Streitfall bestehen.
Nach § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG sind bis zum schädlichen Beteiligungserwerb nicht genutzte Verluste vollständig nicht mehr abziehbar, wenn innerhalb von fünf Jahren mittelbar oder unmittelbar mehr als 50 % des gezeichneten Kapitals, der Mitgliedschaftsrechte, der Beteiligungsrechte oder der Stimmrechte an einer Körperschaft an einen Erwerber oder diesem nahe stehende Personen übertragen werden oder ein vergleichbarer Sachverhalt vorliegt. Die Anteile der Antragstellerin wurden in 2016 zu mehr als 50 % mittelbar an einen einzelnen Erwerber veräußert. Dem Wortlaut des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG zufolge sind daher die streitbefangenen Verluste insgesamt nicht mehr abziehbar.
Darüber hinaus bestehen auf der Grundlage des zu § 8c (später: Abs. 1) Satz 1 KStG a.F. ergangenen BVerfG-Beschlusses vom 29.3.2017 - 2 BvL 6/11 (BStBl II 2017, 1082) ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG, da sie in ihrer Tatbestandlichkeit durch die alleinige Anknüpfung an den Umstand einer Anteilsübertragung (wie ebenfalls auch § 8c [später: Abs. 1] Satz 1 KStG a.F.) nicht am typischen Missbrauchsfall (der auch nicht bei einem besonders qualifizierten Erwerbsquorum ‑ im Streitfall 99 % ‑ vermutet werden kann) ausgerichtet ist.
Das FG hatte allerdings eine AdV abgelehnt, da der Antragstellerin auf der Grundlage der verfassungsrechtlich begründeten Rechtsanwendungszweifel angesichts des (ohne Erwähnung im Gesetzeswortlaut als Aussetzungshindernis formulierten) Vorrangs eines öffentlichen Interesses am Vollzug eines formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes ein "besonderes Aussetzungsinteresse" nicht zuzusprechen sei. Dies sieht der BFH anders. Denn es liegt ein Umstand vor, der der Rückausnahme, dass "das BVerfG eine ähnliche Vorschrift (bereits) für nichtig erklärt hatte", gleichsteht.
In der Rechtsprechung des BFH wird die AdV bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zuweilen davon abhängig gemacht, dass ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht, dem der Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt.
Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung hinsichtlich des Gesetzesvollzugs und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an.
Dem bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestehenden Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes ist der Vorrang einzuräumen, wenn die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung eines Verwaltungsaktes im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung eines ganzen Gesetzes führen würde, die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheides im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen sind und der Eingriff keine dauerhaften nachteiligen Wirkungen hat.
Der BFH hat dabei aber in diesen Fällen in verschiedenen Fallgruppen dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen den Vorrang vor den öffentlichen Interessen eingeräumt, und zwar
- wenn dem Steuerpflichtigen durch den sofortigen Vollzug irreparable Nachteile drohen,
- wenn das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden Einkommensteuer unter dem sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum liegt,
- wenn das BVerfG eine ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt hatte,
- wenn der BFH die vom Steuerpflichtigen als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hatte,
- wenn ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des bisher zulässigen Abzugs von laufenden erwerbsbedingten Aufwendungen als Werbungskosten bestehen oder
- wenn es um das aus verfassungsrechtlichen Gründen schutzwürdige Vertrauen auf die Beibehaltung der bisherigen Rechtslage oder um ausgelaufenes Recht geht.
Dem im BVerfG-Beschluss in BVerfGE 145, 106, BStBl II 2017, 1082 mit Blick auf § 8c (später: Abs. 1) Satz 1 KStG a.F. zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes (und Vermeidung einer Nichtigkeitsfolge) aufgeforderten Gesetzgeber war auf der Grundlage der fachliterarischen Stellungnahmen und Einschätzungen zur möglichen Ausstrahlungswirkung des Beschlusses auf § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG/§ 8c (später: Abs. 1) Satz 2 KStG a.F. ohne weiteres gewiss, dass als Reaktionsmöglichkeit auf fortbestehende Verfassungszweifel durchaus eine generelle Neuausrichtung des Tatbestands des § 8c KStG im Raum stand, die auch angesichts der engen Tatbestandsvoraussetzungen des (neuen) § 8d KStG in der Literatur eindringlich gefordert wurde.
Allerdings hat er sich diesem Ansinnen ‑ vermutlich um die weitere Rechtsprechung abzuwarten ‑ verschlossen, auch wenn er sich im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens von einer "Minimallösung" zu § 8c (später: Abs. 1) Satz 1 KStG a.F. (s. BTDrucks 19/4455, S. 14 - Nichtanwendung der Regelung auf schädliche Beteiligungserwerbe, die nach dem 31.12.2007 und vor dem 1.1.2016 stattgefunden haben) zu einer "kompletten Streichung der Regelung" als deutlich weiter gehender Lösung entschlossen hat (s. BTDrucks 19/5595, S. 76).
In diesem Fall muss die Interessenabwägung (ebenfalls) zugunsten des eine AdV beantragenden Betroffenen ausfallen, auch wenn vom FG zutreffend ausgeführt wird, dass das BVerfG in seinem Beschluss in BVerfGE 145, 106, BStBl II 2017, 1082 § 8c (später: Abs. 1) Satz 1 KStG a.F. nicht für nichtig erklärt, sondern dem Gesetzgeber "lediglich" aufgegeben habe, den Verfassungsverstoß bis zum 31.12.2018 rückwirkend mit Geltung ab dem 1.1.2008 (dem Inkrafttretenszeitpunkt der Regelung) zu beseitigen. Denn dieser Folgenausspruch trägt nur dem Umstand Rechnung, dass für die Beseitigung des Verfassungsverstoßes mehrere Möglichkeiten in Betracht kommen, die in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers stehen, berührt aber die damit verbundene Beeinträchtigung der "Vertrauensposition des Gesetzgebers", die das Hindernis für eine AdV-Gewährung begründen soll, durch die Feststellung des verfassungswidrigen Zustands (mit einer Ausstrahlungswirkung auf die "ähnliche Norm") nicht.