Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen aus einer in den Niederlanden ausgeübten freiberuflichen Tätigkeit
Kurzbesprechung
BFH v. 24.5.2023 - X R 28/21
AEUV Art 45, Art 49, Art 267 Abs 3
EStG § 10 Abs 1 Nr. 2, § 10 Abs 1 Nr. 3, § 10 Abs 1 Nr. 3a, § 10 Abs 2 S 1 Nr. 1, § 32b
FGO § 76 Abs 1 S 1, § 118 Abs 1
ZPO § 293, § 560
DBA NLD 2012 Art 7, Art 22
Die Steuerpflichtigen (Eheleute) wohnen in Deutschland und wurden im Streitjahr 2018 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Ehemann war im Inland nichtselbständig tätig und bezog Arbeitslohn. Die Ehefrau arbeitete als selbständige Hebamme in den Niederlanden und erzielte aus dieser Tätigkeit einen (nach deutschem Recht ermittelten) Gewinn. Sie hatte in den Niederlanden neben einem einkommensunabhängigen gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung (sogenannte Kopfpauschale) weitere einkommensabhängige Sozialversicherungsbeiträge zur Rentenversicherung, zur Pflegeversicherung sowie zur Krankenversicherung geleistet.
Der von der Ehefrau erzielte Gewinn unterlag in den Niederlanden nach Berücksichtigung von Grundfreibeträgen und der wegen der Lebens- und Einkommenssituation der Ehefrau insgesamt höheren "Heffingskorting" (Steuerabzug für die persönlichen Verhältnisse) keiner Einkommensteuerbelastung.
Das FA berücksichtigte den Gewinn der Ehefrau bei der Ermittlung der Einkünfte nicht, erfasste ihn aber im Rahmen des Progressionsvorbehalts. Die Beiträge zur niederländischen Sozialversicherung hingegen blieben sowohl bei der Ermittlung des Einkommens als auch bei der Höhe des Progressionsvorbehalts unberücksichtigt.
Der BFH entschied, dass sich aufgrund der durch das FG getroffenen Feststellungen nicht beurteilen lässt, ob der Abzug der streitigen Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ausgeschlossen ist und verwies den Streitfall daher an die Vorinstanz zurück.
Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG ist Voraussetzung für den Abzug der in § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG bezeichneten Beträge (Vorsorgeaufwendungen), dass sie nicht in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen. Durch diese Regelung soll ein ansonsten eintretender doppelter steuerlicher Vorteil vermieden werden.
Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG sind ungeachtet dessen die genannten Vorsorgeaufwendungen zu berücksichtigen, soweit sie in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in einem Mitgliedstaat der EU oder einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder in der Schweizerischen Eidgenossenschaft erzielten Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit stehen (Buchst. a), diese Einnahmen nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung im Inland steuerfrei sind (Buchst. b) und der Beschäftigungsstaat keinerlei steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dieser Einnahmen zulässt (Buchst. c).
Im Streitfall konnte der BFH schon nicht feststellen, ob es sich bei den von der Ehefrau in den Niederlanden geleisteten streitigen Beiträgen tatsächlich um Vorsorgeaufwendungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG handelt und in welcher Höhe gegebenenfalls entsprechende Beiträge geleistet worden sind.
Zwar hatte das FG ausgeführt, die Ehefrau habe "sowohl einkommensabhängige Beiträge zur Renten- und Pflegeversicherung ... und zur Krankenversicherung als auch den gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung" geleistet. Zudem geht das FG offenbar davon aus, dass es sich hierbei um Beiträge im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG gehandelt hat.
Allerdings lässt sich der Entscheidung des FG nicht entnehmen, auf welcher tatsächlichen Grundlage und nach welchen rechtlichen Bestimmungen das FG zu diesem Schluss gelangt ist. Denn die vom FG genannten Zahlungen lassen sich für den BFH weder dem Grunde nach den jeweiligen Versicherungen zuordnen noch der Höhe nach nachvollziehen.
Zudem genügt es nicht, dass die Beteiligten selbst übereinstimmend von entsprechenden Zahlungen ausgegangen sind und die diesbezüglichen Feststellungen des FG demgemäß auch nicht angegriffen haben.
Im Streitfall konnte auch die Frage, ob es sich bei den von der Ehefrau in den Niederlanden geleisteten streitigen Beiträgen um Vorsorgeaufwendungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG handelt und in welcher Höhe ‑ gegebenenfalls ‑ entsprechende Beiträge geleistet worden sind, nicht dahingestellt bleiben. Denn eine Berücksichtigung als Sonderausgaben ist nicht schon von vornherein nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ausgeschlossen.
Zwar handelt es sich bei den Beiträgen ‑ gegebenenfalls ‑ um Vorsorgeaufwendungen, die in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG stehen. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Vorsorgeaufwendungen gleichwohl gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG zu berücksichtigen sind.
Zwar ist der sachliche Anwendungsbereich des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG dem Wortlaut nach ausdrücklich und unmissverständlich auf Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit beschränkt. Doch muss die in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG enthaltene Ausnahme vom Ausschluss des Sonderausgabenabzugs entgegen dem Wortlaut dieser Regelung nach Auffassung des BFH auch dann Anwendung finden, wenn eine Steuerpflichtige ‑ wie im Streitfall ‑ in einem anderen Mitgliedstaat der EU als Beschäftigungsstaat einer selbständigen Tätigkeit nachgeht.
Dies gebietet die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV, die von einem nationalen Gericht im Rahmen ihrer Zuständigkeit als unmittelbar geltendes Recht zu beachten ist. Folglich führt der Anwendungsvorrang der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV im Streitfall dazu, dass bei der Anwendung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG die unionsrechtswidrige Beschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs der Ausnahmeregelung auf Einnahmen aus "nichtselbständiger" Tätigkeit nicht beachtet wird. Die Regelung ist vielmehr auch auf Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit anzuwenden.
Verlag Dr. Otto Schmidt
AEUV Art 45, Art 49, Art 267 Abs 3
EStG § 10 Abs 1 Nr. 2, § 10 Abs 1 Nr. 3, § 10 Abs 1 Nr. 3a, § 10 Abs 2 S 1 Nr. 1, § 32b
FGO § 76 Abs 1 S 1, § 118 Abs 1
ZPO § 293, § 560
DBA NLD 2012 Art 7, Art 22
Die Steuerpflichtigen (Eheleute) wohnen in Deutschland und wurden im Streitjahr 2018 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Ehemann war im Inland nichtselbständig tätig und bezog Arbeitslohn. Die Ehefrau arbeitete als selbständige Hebamme in den Niederlanden und erzielte aus dieser Tätigkeit einen (nach deutschem Recht ermittelten) Gewinn. Sie hatte in den Niederlanden neben einem einkommensunabhängigen gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung (sogenannte Kopfpauschale) weitere einkommensabhängige Sozialversicherungsbeiträge zur Rentenversicherung, zur Pflegeversicherung sowie zur Krankenversicherung geleistet.
Der von der Ehefrau erzielte Gewinn unterlag in den Niederlanden nach Berücksichtigung von Grundfreibeträgen und der wegen der Lebens- und Einkommenssituation der Ehefrau insgesamt höheren "Heffingskorting" (Steuerabzug für die persönlichen Verhältnisse) keiner Einkommensteuerbelastung.
Das FA berücksichtigte den Gewinn der Ehefrau bei der Ermittlung der Einkünfte nicht, erfasste ihn aber im Rahmen des Progressionsvorbehalts. Die Beiträge zur niederländischen Sozialversicherung hingegen blieben sowohl bei der Ermittlung des Einkommens als auch bei der Höhe des Progressionsvorbehalts unberücksichtigt.
Der BFH entschied, dass sich aufgrund der durch das FG getroffenen Feststellungen nicht beurteilen lässt, ob der Abzug der streitigen Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ausgeschlossen ist und verwies den Streitfall daher an die Vorinstanz zurück.
Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG ist Voraussetzung für den Abzug der in § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG bezeichneten Beträge (Vorsorgeaufwendungen), dass sie nicht in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen. Durch diese Regelung soll ein ansonsten eintretender doppelter steuerlicher Vorteil vermieden werden.
Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG sind ungeachtet dessen die genannten Vorsorgeaufwendungen zu berücksichtigen, soweit sie in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in einem Mitgliedstaat der EU oder einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder in der Schweizerischen Eidgenossenschaft erzielten Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit stehen (Buchst. a), diese Einnahmen nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung im Inland steuerfrei sind (Buchst. b) und der Beschäftigungsstaat keinerlei steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dieser Einnahmen zulässt (Buchst. c).
Im Streitfall konnte der BFH schon nicht feststellen, ob es sich bei den von der Ehefrau in den Niederlanden geleisteten streitigen Beiträgen tatsächlich um Vorsorgeaufwendungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG handelt und in welcher Höhe gegebenenfalls entsprechende Beiträge geleistet worden sind.
Zwar hatte das FG ausgeführt, die Ehefrau habe "sowohl einkommensabhängige Beiträge zur Renten- und Pflegeversicherung ... und zur Krankenversicherung als auch den gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung" geleistet. Zudem geht das FG offenbar davon aus, dass es sich hierbei um Beiträge im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG gehandelt hat.
Allerdings lässt sich der Entscheidung des FG nicht entnehmen, auf welcher tatsächlichen Grundlage und nach welchen rechtlichen Bestimmungen das FG zu diesem Schluss gelangt ist. Denn die vom FG genannten Zahlungen lassen sich für den BFH weder dem Grunde nach den jeweiligen Versicherungen zuordnen noch der Höhe nach nachvollziehen.
Zudem genügt es nicht, dass die Beteiligten selbst übereinstimmend von entsprechenden Zahlungen ausgegangen sind und die diesbezüglichen Feststellungen des FG demgemäß auch nicht angegriffen haben.
Im Streitfall konnte auch die Frage, ob es sich bei den von der Ehefrau in den Niederlanden geleisteten streitigen Beiträgen um Vorsorgeaufwendungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG handelt und in welcher Höhe ‑ gegebenenfalls ‑ entsprechende Beiträge geleistet worden sind, nicht dahingestellt bleiben. Denn eine Berücksichtigung als Sonderausgaben ist nicht schon von vornherein nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ausgeschlossen.
Zwar handelt es sich bei den Beiträgen ‑ gegebenenfalls ‑ um Vorsorgeaufwendungen, die in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG stehen. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Vorsorgeaufwendungen gleichwohl gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG zu berücksichtigen sind.
Zwar ist der sachliche Anwendungsbereich des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG dem Wortlaut nach ausdrücklich und unmissverständlich auf Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit beschränkt. Doch muss die in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG enthaltene Ausnahme vom Ausschluss des Sonderausgabenabzugs entgegen dem Wortlaut dieser Regelung nach Auffassung des BFH auch dann Anwendung finden, wenn eine Steuerpflichtige ‑ wie im Streitfall ‑ in einem anderen Mitgliedstaat der EU als Beschäftigungsstaat einer selbständigen Tätigkeit nachgeht.
Dies gebietet die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV, die von einem nationalen Gericht im Rahmen ihrer Zuständigkeit als unmittelbar geltendes Recht zu beachten ist. Folglich führt der Anwendungsvorrang der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV im Streitfall dazu, dass bei der Anwendung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG die unionsrechtswidrige Beschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs der Ausnahmeregelung auf Einnahmen aus "nichtselbständiger" Tätigkeit nicht beachtet wird. Die Regelung ist vielmehr auch auf Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit anzuwenden.