04.08.2022

Dreimonatiger Anspruchsausschluss nach § 62 Abs. 1a EStG unionsrechtswidrig

Ein Unionsbürger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat, kann nicht deshalb während der ersten drei Monate seines Aufenthalts vom Bezug von Kindergeld ausgeschlossen werden, weil er keine Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat bezieht.

Kurzbesprechung
EuGH v. 1.8.2022 - C-411/20

EStG § 62 Abs. 1a Satz 1

Eine aus einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland stammende Unionsbürgerin klagt vor einem deutschen Gericht gegen die Ablehnung ihres Kindergeldantrags für ihre drei Kinder durch die Familienkasse für die ersten drei Monate nach Begründung ihres Aufenthalts in Deutschland.

Die Familienkasse war unter Hinweis auf § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG der Auffassung, dass die Antragstellerin nicht die im Juli 2019 in Deutschland eingeführten Voraussetzungen erfülle, um als Unionsbürgerin Kindergeld während der ersten drei Monate beanspruchen zu können, weil sie in dieser Zeit keine "inländischen Einkünfte" bezogen habe. Denn § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG regelt unter anderem, dass ein Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats in den ersten drei Monaten ab Begründung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland keinen Anspruch auf Kindergeld hat. Dies gilt nach § 62 Abs. 1a Satz 2 EStG nicht, wenn er nachweist, dass er im Inland Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, einem Gewerbebetrieb, aus selbstständiger Arbeit oder aus nichtselbstständiger Arbeit erzielt, also erwerbstätig ist. Die Vorschrift wurde mit dem Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch v. 11.7.2019 mit Wirkung zum 1.8.2019 eingeführt (§ 52 Abs. 49a Satz 1 EStG).

Das FG Bremen hatte dem EuGH die Frage vorgelegt, ob diese unterschiedliche Behandlung mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Der EuGH entschied, dass jeder Unionsbürger, auch wenn er wirtschaftlich nicht aktiv ist, das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss. Ansonsten braucht er keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen, solange er und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. In diesem Fall ist ihr Aufenthalt grundsätzlich rechtmäßig. Während dieser Zeit genießen die Unionsbürger vorbehaltlich vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen die gleiche Behandlung wie Inländer.

Zwar kann der Aufnahmemitgliedstaat gemäß einer im Unionsrecht zu diesem Zweck vorgesehenen Ausnahmebestimmung einem wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts eine Sozialhilfeleistung verweigern. Das in Rede stehende Kindergeld stellt aber keine Sozialhilfeleistung im Sinne dieser Ausnahmebestimmung dar. Es wird nämlich unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit seines Empfängers gewährt und dient nicht der Sicherstellung seines Lebensunterhalts, sondern dem Ausgleich von Familienlasten. Da hinsichtlich solcher Familienleistungen eine Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Inländern und Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats nicht vorgesehen ist, steht das Unionsrecht der vom deutschen Gesetzgeber eingeführten Ungleichbehandlung entgegen.

Auf die Gleichbehandlung kann sich der betreffende Unionsbürger allerdings nur berufen, wenn er während der fraglichen ersten drei Monate tatsächlich seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat. Ein nur vorübergehender Aufenthalt genügt insoweit nicht. Die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Aufnahmemitgliedstaat impliziert, dass die betreffende Person den Willen zum Ausdruck gebracht hat, dort tatsächlich den gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen zu errichten, und nachweist, dass ihre Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hinreichend dauerhaft ist, um sie von einem vorübergehenden Aufenthalt zu unterscheiden.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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