EU-Kommission hat polnische Einzelhandelssteuer zu Unrecht als staatliche Beihilfe gewertet
EuG v. 16.5.2019 - T-836/16 u.a.
Der Sachverhalt:
Am 1.9.2016 ist in Polen das Gesetz über die Einzelhandelssteuer in Kraft getreten. Steuerpflichtig waren alle Einzelhändler, unabhängig von ihrer Rechtsform. Bemessungsgrundlage der Steuer war der Umsatz der betroffenen Gesellschaften. Der Steuersatz war progressiv ausgestaltet. Besteuert wurde der mtl. Umsatz oberhalb von 17 Mio. polnischen Złoty (PLN), etwa 4 Mio. €. Der Steuersatz betrug 0,8 % für den mtl. Umsatz zwischen 17 und 170 Mio. PLN und 1,4 % für den darüber liegenden mtl. Umsatz.
Nach mehreren Schriftwechseln über dieses Gesetz zwischen den polnischen Behörden und der Kommission leitete diese wegen der fraglichen nationalen Maßnahme, die sie als staatliche Beihilfe ansah, ein Verfahren ein. Mit Beschluss vom 19.9.2016 forderte die Kommission die Beteiligten nicht nur zu einer Stellungnahme auf, sondern verpflichtete die polnischen Behörden auch zur unverzüglichen Aussetzung der "Anwendung des progressiven Steuersatzes, bis die Kommission einen Beschluss über die Vereinbarkeit der Steuer mit dem Binnenmarkt erlassen hat". Die polnische Regierung setzte die Anwendung des Gesetzes aus.
Mit Beschluss vom 30.6.2017 stellte die Kommission fest, dass die fragliche Steuer eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe darstelle und rechtswidrig eingeführt worden sei. Nach diesem Beschluss mussten die polnischen Behörden alle Zahlungen endgültig annullieren, die aufgrund des verfahrenseinleitenden Beschlusses ausgesetzt worden waren. Da die streitige Maßnahme nicht durchgeführt worden war, hielt es die Kommission für nicht erforderlich, dass Beihilfezahlungen von Begünstigten zurückgefordert würden. Nach Ansicht von Polen ist die Kommission zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Einzelhandelssteuer eine selektive Maßnahme zugunsten bestimmter Unternehmen darstelle, weil die Steuersätze, die auf den Umsatz als Bemessungsgrundlage angewandt würden, progressiv ausgestaltet seien. Polen hat daher beim EuG beantragt, sowohl den verfahrenseinleitenden Beschluss (T-836/16) als auch den verfahrensabschließenden Beschluss (T-624/17) für nichtig zu erklären.
Das EuG gab der Klage statt. Gegen die Entscheidung kann innerhalb von zwei Monaten und zehn Tagen nach ihrer Zustellung ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim EuGH eingelegt werden.
Die Gründe:
Eine Maßnahme, mit der die staatlichen Stellen bestimmten Unternehmen eine steuerliche Vergünstigung gewähren, die die Begünstigten finanziell besser stellt als die übrigen Steuerpflichtigen, stellt eine staatliche Beihilfe dar. Aus den angefochtenen Beschlüssen geht hervor, dass die Steuer nach Ansicht der Kommission so ausgestaltet sein müsste, dass der Umsatz der Einzelhändler ab dem ersten polnischen Złoty mit einem einheitlich Satz (linear) besteuert wird. Die "normale" Regelung mit einem einheitlichen Steuersatz, die die Kommission herangezogen hat, ist jedoch eine hypothetische Regelung, auf die nicht abgestellt werden durfte. Denn die Prüfung, ob eine steuerliche Vergünstigung selektiv ist oder nicht, muss anhand der tatsächlichen Merkmale der "normalen" Steuerregelung durchgeführt werden, in die sich die Vergünstigung einfügt, und nicht anhand von Hypothesen, von denen die zuständige Behörde nicht ausgegangen ist.
Folglich stellt es einen Rechtsfehler dar, dass die Kommission in den angefochtenen Beschlüssen eine "normale" Steuerregelung ermittelt hat, die entweder unvollständig ist - weil der Steuertarif außer Betracht bleibt - oder hypothetisch - weil ein einheitlicher Steuertarif unterstellt wird. In Anbetracht der Tatsache, dass die fragliche Steuer einen bestimmten Wirtschaftszweig betrifft und es keine differenzierten Steuersätze für bestimmte Unternehmen gibt, durfte im vorliegenden Fall als "normale" Regelung allein die Einzelhandelssteuer selbst mit ihrer Struktur, die einen progressiven Steuertarif beinhaltet, und ihren Stufen herangezogen werden. Das von der Kommission in ihrem verfahrenseinleitenden Beschluss festgestellte Ziel, den allgemeinen Haushalt zu finanzieren, ist allen nicht zweckgebundenen Steuern, die den Kern der Steuersysteme bilden, gemein. Dieses Ziel reicht für sich genommen nicht aus, um die Natur der jeweiligen Steuer zu bestimmen. Im Übrigen kann die progressive Tarifstruktur einer Steuer als solche dem Ziel, Haushaltseinnahmen zu erzielen, nicht zuwiderlaufen.
Es durfte auch nicht von dem in dem verfahrensabschließenden Beschluss der Kommission festgestellten Ziel der Besteuerung des Umsatzes aller Unternehmen des betreffenden Wirtschaftszweigs ausgegangen werden. Tatsächlich war nämlich das Ziel der polnischen Behörden die Schaffung einer den Grundsatz der steuerlichen Umverteilung wahrenden Steuer für einen bestimmten Wirtschaftszweig. Die Systematik der fraglichen Steuer, die durch eine progressive Besteuerungsstruktur gekennzeichnet ist, steht mit diesem Ziel a priori im Einklang. Denn es kann vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass ein Unternehmen, das einen hohen Umsatz erzielt, dank verschiedener Skaleneffekte verhältnismäßig geringere Kosten haben kann als ein Unternehmen, das einen bescheideneren Umsatz erzielt. Die Kommission hat daher einen weiteren Fehler begangen, als sie der Einzelhandelssteuer ein anderes Ziel unterstellt hat als das, das die polnischen Behörden angegeben hatten.
Hinsichtlich der Frage, ob die von den polnischen Behörden gewählte Besteuerungsstruktur dem Ziel dieser Regelung zuwiderlief, ist festzustellen, dass es Steuern gibt, deren Natur Anpassungsvorschriften bis hin zu Steuerbefreiungen nicht entgegensteht, ohne dass diese Vorschriften zur Gewährung selektiver Vorteile führen. Bei einer Steuer auf den Umsatz ist daher ein Anpassungskriterium in Gestalt einer progressiven Besteuerung ab einer bestimmten Schwelle - selbst wenn sie hoch ist -, das dem Wunsch entsprechen kann, die Tätigkeit eines Unternehmens erst dann zu besteuern, wenn sie einen gewissen Umfang erreicht, für sich genommen nicht gleichbedeutend mit dem Vorliegen eines selektiven Vorteils. Die Kommission durfte nicht allein aus der progressiven Struktur der Einzelhandelssteuer auf das Vorliegen mit dieser neuen Steuer einhergehender selektiver Vorteile schließen durfte. Der Kommission ist es außerdem nicht gelungen, in den angefochtenen Beschlüssen darzutun, dass ein selektiver Vorteil vorliegt, mit dem eine Unterscheidung zwischen Wirtschaftsteilnehmern eingeführt wird, die sich im Hinblick auf den Zweck, den der polnische Gesetzgeber mit der Einzelhandelssteuer verfolgte, in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.
Infolgedessen war der verfahrensabschließende Beschluss der Kommission für nichtig zu erklären. Was schließlich den verfahrenseinleitenden Beschluss der Kommission betrifft, ist festzustellen, dass dieser Beschluss auf einer offensichtlich unzutreffenden Analyse beruht, da er nicht damit begründet wird, dass hinsichtlich der Frage, ob eine neue Beihilfe vorliegt, in Anbetracht der Aktenlage legitime Zweifel bestehen, sondern mit einer auf juristische Erwägungen gestützten Stellungnahme, mit der sich dieser Beschluss nicht rechtfertigen lässt. Folglich war auch dieser Beschluss der Kommission für nichtig zu erklären.
Linkhinweis:
EuG PM Nr. 64 vom 16.5.2019
Am 1.9.2016 ist in Polen das Gesetz über die Einzelhandelssteuer in Kraft getreten. Steuerpflichtig waren alle Einzelhändler, unabhängig von ihrer Rechtsform. Bemessungsgrundlage der Steuer war der Umsatz der betroffenen Gesellschaften. Der Steuersatz war progressiv ausgestaltet. Besteuert wurde der mtl. Umsatz oberhalb von 17 Mio. polnischen Złoty (PLN), etwa 4 Mio. €. Der Steuersatz betrug 0,8 % für den mtl. Umsatz zwischen 17 und 170 Mio. PLN und 1,4 % für den darüber liegenden mtl. Umsatz.
Nach mehreren Schriftwechseln über dieses Gesetz zwischen den polnischen Behörden und der Kommission leitete diese wegen der fraglichen nationalen Maßnahme, die sie als staatliche Beihilfe ansah, ein Verfahren ein. Mit Beschluss vom 19.9.2016 forderte die Kommission die Beteiligten nicht nur zu einer Stellungnahme auf, sondern verpflichtete die polnischen Behörden auch zur unverzüglichen Aussetzung der "Anwendung des progressiven Steuersatzes, bis die Kommission einen Beschluss über die Vereinbarkeit der Steuer mit dem Binnenmarkt erlassen hat". Die polnische Regierung setzte die Anwendung des Gesetzes aus.
Mit Beschluss vom 30.6.2017 stellte die Kommission fest, dass die fragliche Steuer eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe darstelle und rechtswidrig eingeführt worden sei. Nach diesem Beschluss mussten die polnischen Behörden alle Zahlungen endgültig annullieren, die aufgrund des verfahrenseinleitenden Beschlusses ausgesetzt worden waren. Da die streitige Maßnahme nicht durchgeführt worden war, hielt es die Kommission für nicht erforderlich, dass Beihilfezahlungen von Begünstigten zurückgefordert würden. Nach Ansicht von Polen ist die Kommission zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Einzelhandelssteuer eine selektive Maßnahme zugunsten bestimmter Unternehmen darstelle, weil die Steuersätze, die auf den Umsatz als Bemessungsgrundlage angewandt würden, progressiv ausgestaltet seien. Polen hat daher beim EuG beantragt, sowohl den verfahrenseinleitenden Beschluss (T-836/16) als auch den verfahrensabschließenden Beschluss (T-624/17) für nichtig zu erklären.
Das EuG gab der Klage statt. Gegen die Entscheidung kann innerhalb von zwei Monaten und zehn Tagen nach ihrer Zustellung ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim EuGH eingelegt werden.
Die Gründe:
Eine Maßnahme, mit der die staatlichen Stellen bestimmten Unternehmen eine steuerliche Vergünstigung gewähren, die die Begünstigten finanziell besser stellt als die übrigen Steuerpflichtigen, stellt eine staatliche Beihilfe dar. Aus den angefochtenen Beschlüssen geht hervor, dass die Steuer nach Ansicht der Kommission so ausgestaltet sein müsste, dass der Umsatz der Einzelhändler ab dem ersten polnischen Złoty mit einem einheitlich Satz (linear) besteuert wird. Die "normale" Regelung mit einem einheitlichen Steuersatz, die die Kommission herangezogen hat, ist jedoch eine hypothetische Regelung, auf die nicht abgestellt werden durfte. Denn die Prüfung, ob eine steuerliche Vergünstigung selektiv ist oder nicht, muss anhand der tatsächlichen Merkmale der "normalen" Steuerregelung durchgeführt werden, in die sich die Vergünstigung einfügt, und nicht anhand von Hypothesen, von denen die zuständige Behörde nicht ausgegangen ist.
Folglich stellt es einen Rechtsfehler dar, dass die Kommission in den angefochtenen Beschlüssen eine "normale" Steuerregelung ermittelt hat, die entweder unvollständig ist - weil der Steuertarif außer Betracht bleibt - oder hypothetisch - weil ein einheitlicher Steuertarif unterstellt wird. In Anbetracht der Tatsache, dass die fragliche Steuer einen bestimmten Wirtschaftszweig betrifft und es keine differenzierten Steuersätze für bestimmte Unternehmen gibt, durfte im vorliegenden Fall als "normale" Regelung allein die Einzelhandelssteuer selbst mit ihrer Struktur, die einen progressiven Steuertarif beinhaltet, und ihren Stufen herangezogen werden. Das von der Kommission in ihrem verfahrenseinleitenden Beschluss festgestellte Ziel, den allgemeinen Haushalt zu finanzieren, ist allen nicht zweckgebundenen Steuern, die den Kern der Steuersysteme bilden, gemein. Dieses Ziel reicht für sich genommen nicht aus, um die Natur der jeweiligen Steuer zu bestimmen. Im Übrigen kann die progressive Tarifstruktur einer Steuer als solche dem Ziel, Haushaltseinnahmen zu erzielen, nicht zuwiderlaufen.
Es durfte auch nicht von dem in dem verfahrensabschließenden Beschluss der Kommission festgestellten Ziel der Besteuerung des Umsatzes aller Unternehmen des betreffenden Wirtschaftszweigs ausgegangen werden. Tatsächlich war nämlich das Ziel der polnischen Behörden die Schaffung einer den Grundsatz der steuerlichen Umverteilung wahrenden Steuer für einen bestimmten Wirtschaftszweig. Die Systematik der fraglichen Steuer, die durch eine progressive Besteuerungsstruktur gekennzeichnet ist, steht mit diesem Ziel a priori im Einklang. Denn es kann vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass ein Unternehmen, das einen hohen Umsatz erzielt, dank verschiedener Skaleneffekte verhältnismäßig geringere Kosten haben kann als ein Unternehmen, das einen bescheideneren Umsatz erzielt. Die Kommission hat daher einen weiteren Fehler begangen, als sie der Einzelhandelssteuer ein anderes Ziel unterstellt hat als das, das die polnischen Behörden angegeben hatten.
Hinsichtlich der Frage, ob die von den polnischen Behörden gewählte Besteuerungsstruktur dem Ziel dieser Regelung zuwiderlief, ist festzustellen, dass es Steuern gibt, deren Natur Anpassungsvorschriften bis hin zu Steuerbefreiungen nicht entgegensteht, ohne dass diese Vorschriften zur Gewährung selektiver Vorteile führen. Bei einer Steuer auf den Umsatz ist daher ein Anpassungskriterium in Gestalt einer progressiven Besteuerung ab einer bestimmten Schwelle - selbst wenn sie hoch ist -, das dem Wunsch entsprechen kann, die Tätigkeit eines Unternehmens erst dann zu besteuern, wenn sie einen gewissen Umfang erreicht, für sich genommen nicht gleichbedeutend mit dem Vorliegen eines selektiven Vorteils. Die Kommission durfte nicht allein aus der progressiven Struktur der Einzelhandelssteuer auf das Vorliegen mit dieser neuen Steuer einhergehender selektiver Vorteile schließen durfte. Der Kommission ist es außerdem nicht gelungen, in den angefochtenen Beschlüssen darzutun, dass ein selektiver Vorteil vorliegt, mit dem eine Unterscheidung zwischen Wirtschaftsteilnehmern eingeführt wird, die sich im Hinblick auf den Zweck, den der polnische Gesetzgeber mit der Einzelhandelssteuer verfolgte, in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.
Infolgedessen war der verfahrensabschließende Beschluss der Kommission für nichtig zu erklären. Was schließlich den verfahrenseinleitenden Beschluss der Kommission betrifft, ist festzustellen, dass dieser Beschluss auf einer offensichtlich unzutreffenden Analyse beruht, da er nicht damit begründet wird, dass hinsichtlich der Frage, ob eine neue Beihilfe vorliegt, in Anbetracht der Aktenlage legitime Zweifel bestehen, sondern mit einer auf juristische Erwägungen gestützten Stellungnahme, mit der sich dieser Beschluss nicht rechtfertigen lässt. Folglich war auch dieser Beschluss der Kommission für nichtig zu erklären.
Linkhinweis:
- Für die auf den Webseiten des EuGH veröffentlichte Pressemitteilung klicken Sie bitte hier.