Keine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU bei Bestehen eines Aufenthaltsrechts nach Art. 10 VO (EU) 492/2011
BVerwG 11.9.2019, 1 C 48.18
Der Sachverhalt:
Die Klägerin zu 1) und ihre beiden Töchter, die Klägerinnen zu 2) und 3), sind polnische Staatsangehörige. Sie reisten im Februar 2009 in das Bundesgebiet ein. Von Ende Mai 2012 bis Ende März 2013 ging die Klägerin zu 1) einer Beschäftigung nach. In der Folge wurden ihr und ihren Kindern, die staatliche Schulen im Bundesgebiet besuchten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bewilligt.
Im Juni 2013 stellte die beklagte Ausländerbehörde den Verlust des Rechts der Klägerinnen auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland fest. Nach Aufnahme einer Beschäftigung im August 2013 wurde an der Verlustfeststellung nur noch für den Zeitraum von Juni bis August 2013 festgehalten.
Das VG wies die hiergegen gerichtete Klage ab. Auf die Berufung der Klägerinnen hob das OVG die Verlustfeststellung auch im Hinblick auf den Zeitraum Juni bis August 2013 auf. Die Klägerinnen zu 2) und 3) seien als Kinder einer Wanderarbeitnehmerin auch in dem streitigen Zeitraum freizügigkeitsberechtigt gewesen. Der Klägerin zu 1) habe als für ihre Kinder sorgendem Elternteil ein von diesem Aufenthaltsrecht ihrer Töchter abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugestanden. Die Revision der Ausländerbehörde hatte vor dem BVerwG keinen Erfolg.
Die Gründe:
Ausgehend davon, dass die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU nicht in einzelne Zeitabschnitte teilbar ist, kann sie grundsätzlich insgesamt keinen Bestand mehr haben, wenn der betroffene Unionsbürger oder sein Familienangehöriger im Verlauf des Verfahrens (neuerlich) freizügigkeitsberechtigt wird und die Behörde die Verlustfeststellung nur noch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum aufrechterhält.
Wird hingegen von einer zeitlichen Teilbarkeit der Verlustfeststellung und damit einer zeitabschnittsweisen Betrachtung ausgegangen, war die verbliebene Verlustfeststellung ebenfalls rechtswidrig. Denn die Klägerinnen waren auch seinerzeit freizügigkeitsberechtigt i.S.d. FreizügG/EU. Gem. Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Dies vermittelt ihnen und - hiervon abgeleitet - auch ihren tatsächlich die Personensorge ausübenden Eltern ein Aufenthaltsrecht.
Aufenthaltszeiten, die allein auf der Grundlage des Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 zurückgelegt wurden, ohne dass die für die Inanspruchnahme eines Aufenthaltsrechts nach der sog. Unionsbürger-Richtlinie (RL 2004/38/EG) vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt waren, können zwar nicht für die Zwecke eines Daueraufenthaltsrechts i.S.d. § 4a FreizügG/EU berücksichtigt werden. Jedoch vermitteln sie den Kindern eines Wanderarbeitnehmers und dem Elternteil, der die tatsächliche Sorge für diese ausübt, Freizügigkeit i.S.d. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU in dem Aufnahmemitgliedstaat des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers, so dass eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU ausscheidet.
Linkhinweis:
BVerwG PM Nr. 61 vom 11.9.2019
Die Klägerin zu 1) und ihre beiden Töchter, die Klägerinnen zu 2) und 3), sind polnische Staatsangehörige. Sie reisten im Februar 2009 in das Bundesgebiet ein. Von Ende Mai 2012 bis Ende März 2013 ging die Klägerin zu 1) einer Beschäftigung nach. In der Folge wurden ihr und ihren Kindern, die staatliche Schulen im Bundesgebiet besuchten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bewilligt.
Im Juni 2013 stellte die beklagte Ausländerbehörde den Verlust des Rechts der Klägerinnen auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland fest. Nach Aufnahme einer Beschäftigung im August 2013 wurde an der Verlustfeststellung nur noch für den Zeitraum von Juni bis August 2013 festgehalten.
Das VG wies die hiergegen gerichtete Klage ab. Auf die Berufung der Klägerinnen hob das OVG die Verlustfeststellung auch im Hinblick auf den Zeitraum Juni bis August 2013 auf. Die Klägerinnen zu 2) und 3) seien als Kinder einer Wanderarbeitnehmerin auch in dem streitigen Zeitraum freizügigkeitsberechtigt gewesen. Der Klägerin zu 1) habe als für ihre Kinder sorgendem Elternteil ein von diesem Aufenthaltsrecht ihrer Töchter abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugestanden. Die Revision der Ausländerbehörde hatte vor dem BVerwG keinen Erfolg.
Die Gründe:
Ausgehend davon, dass die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU nicht in einzelne Zeitabschnitte teilbar ist, kann sie grundsätzlich insgesamt keinen Bestand mehr haben, wenn der betroffene Unionsbürger oder sein Familienangehöriger im Verlauf des Verfahrens (neuerlich) freizügigkeitsberechtigt wird und die Behörde die Verlustfeststellung nur noch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum aufrechterhält.
Wird hingegen von einer zeitlichen Teilbarkeit der Verlustfeststellung und damit einer zeitabschnittsweisen Betrachtung ausgegangen, war die verbliebene Verlustfeststellung ebenfalls rechtswidrig. Denn die Klägerinnen waren auch seinerzeit freizügigkeitsberechtigt i.S.d. FreizügG/EU. Gem. Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Dies vermittelt ihnen und - hiervon abgeleitet - auch ihren tatsächlich die Personensorge ausübenden Eltern ein Aufenthaltsrecht.
Aufenthaltszeiten, die allein auf der Grundlage des Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 zurückgelegt wurden, ohne dass die für die Inanspruchnahme eines Aufenthaltsrechts nach der sog. Unionsbürger-Richtlinie (RL 2004/38/EG) vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt waren, können zwar nicht für die Zwecke eines Daueraufenthaltsrechts i.S.d. § 4a FreizügG/EU berücksichtigt werden. Jedoch vermitteln sie den Kindern eines Wanderarbeitnehmers und dem Elternteil, der die tatsächliche Sorge für diese ausübt, Freizügigkeit i.S.d. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU in dem Aufnahmemitgliedstaat des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers, so dass eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU ausscheidet.
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