02.11.2016

Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten

Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht. Für eine (vorrangige) Anspruchsberechtigung eines nicht freizügigkeitsberechtigten Elternteils müssen die Voraussetzungen i.S.d. § 62 Abs. 2 EStG erfüllt sein.

BFH 7.7.2016, III R 11/13
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist ruandischer Staatsangehöriger und lebt als anerkannter Flüchtling i.S.d. Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 in Deutschland. Er besitzt eine unbefristete Niederlassungserlaubnis. Der Kläger ist seit Mai 2011 sozialversicherungspflichtig beschäftigt, seit November 2011 unbefristet.

Der Kläger hatte mit notarieller Urkunde vom 17.10.2011 die Vaterschaft der im Oktober 2011 in Belgien geborenen L. anerkannt. Diese lebt bei der Kindsmutter in Belgien. Die Kindsmutter bezieht seit der Geburt Kindergeld in Belgien i.H.v. monatlich 86,77 €. Die Familienkasse lehnte den Antrag des Klägers auf Festsetzung von Kindergeld für L im Dezember 2011 ab. Sie war der Ansicht, die Kindsmutter habe L in ihren Haushalt aufgenommen.

Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Es verpflichtete die Familienkasse zur Festsetzung des beantragten Differenzkindergeldes für den Zeitraum Oktober 2011 bis Februar 2012. Auf die Revision der Finanzbehörde hob der BFH das Urteil auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.

Gründe:
Das FG hatte seinem Urteil zu Unrecht die Rechtsauffassung zugrunde gelegt, eine vorrangige Anspruchsberechtigung der Kindsmutter komme mangels Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland nicht in Betracht.

Zwar war es zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger nach nationalem Recht gem. § 62 EStG anspruchsberechtigt ist. Die Kindsmutter könnte aber nach § 64 Abs. 2 S. 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt sein, da sie die L. in ihren Haushalt aufgenommen hatte und nach Art. 67 S. 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009 die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird.

Die Sache war jedoch noch nicht spruchreif, da der Senat nicht abschließend beurteilen konnte, ob auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch der Kindsmutter erfüllt sind. Das FG hatte keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Kindsmutter eine (nicht) freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S.d. § 62 Abs. 2 EStG ist.

Sollte die Kindsmutter eine freizügigkeitsberechtigte Ausländerin sein, folgte ein vorrangiger Anspruch des Klägers nicht aus § 64 Abs. 2 S. 2 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des FG unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt könnte sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009 ergeben. Der Anspruch der Kindsmutter wäre demnach nach § 64 Abs. 2 S. 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger eine Haushaltsaufnahme der L. vorliegt. Es käme auch nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat.

Sollte die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin sein - worauf die bei der Gerichtsakte befindliche Geburtsurkunde hindeuten könnte -, müsste sie für eine vorrangige Anspruchsberechtigung die Voraussetzungen i.S.d. § 62 Abs. 2 EStG erfüllen.

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