20.05.2021

Kindergeld bei Wohnsitz der Eltern in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten

1. Ein Zusammentreffen von Leistungsansprüchen i.S. des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil der im Inland lebende Elternteil nach Art. 11 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 dem deutschen Recht unterliegt, wenn der andere Elternteil unter die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats fällt, dort aber selbst keinen Familienleistungsanspruch hat.
2. Nach der gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 anzuwendenden Familienbetrachtung ist nicht nur zu fingieren, dass der im Inland wohnende Elternteil auch im Wohnsitz-Mitgliedstaat des anderen Elternteils wohnt, sondern auch, dass er unter die Rechtsvorschriften des betreffenden anderen Mitgliedstaats fällt. Es ist daher auch zu prüfen, ob der im Inland lebende Elternteil die Anspruchsvoraussetzungen im anderen Mitgliedstaat erfüllt und deshalb eine Anspruchskonkurrenz besteht.

Kurzbesprechung
BFH v. 18.2.2021 - III R 71/18

EStG § 62 Abs1
EGV 883/2004 Art. 11, 883/2004 Art. 68 Abs. 1, 883/2004 Art. 68 Abs. 2 S. 3, 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2


Die Anspruchsberechtigte hatte im Streitzeitraum einen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG) und unterlag als Staatsangehörige Polens nicht den einschränkenden Regelungen des § 62 Abs. 2 EStG für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer.

Das leibliche Kind der Anspruchsberechtigten war nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG berücksichtigungsfähig und zunächst bis Februar 2011 einen Wohnsitz im Inland und ab März 2011 in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union --EU-- (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG), nämlich in Polen. Ferner erfüllte es auch die besonderen Berücksichtigungsvoraussetzungen für volljährige Kinder, da es sich ab November 2010 ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemühte (§ 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) und ab März 2011 diese Ausbildung an einer Realschule für Erwachsene auch durchführte (§ 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG).

Art. 11 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 bestimmt als Grundsatz, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Die Anspruchsberechtigte unterliegt gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Deutschland, da sie im Streitzeitraum weder eine Erwerbstätigkeit ausgeübt (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und b VO Nr. 883/2004) noch Leistungen bei Arbeitslosigkeit (Art. 11 Abs. 3 Buchst. c VO Nr. 883/2004) erhalten hat.

Der Kindsvater unterlag jedenfalls aufgrund seines Wohnsitzes den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Polen, da er im Streitzeitraum ebenfalls keiner Erwerbstätigkeit nachging.

Allerdings gilt für den Bereich der Familienleistungen die Sonderregelung des Art. 67 Satz 1 VO Nr. 883/2004. Danach hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Es ist demnach nicht nur zu fingieren, dass die Anspruchsberechtigte in Polen wohnt, sondern auch dass sie --wie der Kindsvater-- den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Polen unterfällt.

Die Anspruchskonkurrenz zwischen dem deutschen Kindergeldanspruch und der ausländischen Familienleistung ist nach Art. 68 VO Nr. 883/2004 aufzulösen, wenn --wie im vorliegenden Fall-- deren persönlicher und sachlicher Geltungsbereich eröffnet ist; diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig. Dabei ist auch nicht ausgeschlossen, dass es i.S. des Art. 68 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 zu einem Zusammentreffen von Leistungen für denselben Zeitraum und für denselben Familienangehörigen nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten Deutschland und Polen kommen kann.

Was einen Familienleistungsanspruch der Anspruchsberechtigten in Polen anbelangt, hatte das FG bislang nicht festgestellt, ob ein solcher besteht. Es hat zwar in den Raum gestellt, dass ihr als sorgeberechtigtem Elternteil ein solcher Anspruch nach polnischem Recht zustehen könnte. Weitere Ermittlungen hierzu hat es aber auf der Grundlage der unzutreffenden Annahme der ausschließlichen Anwendbarkeit deutschen Rechts unterlassen. Der BFH hob daher die Entscheidung der Vorinstanz auf und verwies den Streitfall zur weiteren Sachaufklärung und erneuten Entscheidung an das FG zurück.

Es muss zunächst geklärt werden, ob und in welchem Umfang --bei fiktiver Annahme der Anwendbarkeit polnischen Rechts-- dort ein Anspruch der Anspruchsberechtigten auf Familienleistungen für das Kind bestand. Insofern wäre auch zu berücksichtigen, dass die von der Anspruchsberechtigten in Deutschland gestellten Kindergeldanträge gemäß Art. 68 Abs. 3 Buchst. b VO Nr. 883/2004 von den polnischen Behörden so zu behandeln wären, als ob sie direkt bei ihnen gestellt worden wären; der Tag der Einreichung des Antrags beim ersten Träger gilt als der Tag der Einreichung bei dem Träger, der vorrangig zuständig ist.

Sollten diese im zweiten Rechtsgang nachzuholenden Ermittlungen ergeben, dass ein Anspruch des Kindsvaters oder der Anspruchsberechtigten in Polen bestand, wäre im Hinblick auf die Anwendung der Prioritätsregel des Art. 68 VO Nr. 883/2004 noch genauer festzustellen, woraus sich die Zuständigkeit Polens für den Kindsvater und daraus abgeleitet die Zuständigkeit Polens für die Kindsmutter ergibt. Denn für den Fall, dass der Kindsvater nach Beendigung seiner Erwerbstätigkeit z.B. Kranken- oder Arbeitslosengeld bezogen hätte, wäre die Zuständigkeit Polens gemäß dem Beschluss Nr. F1 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit Europäische Gemeinschaft vom 12.06.2009 durch eine Beschäftigung begründet. Dies hätte zur Folge, dass auch der Anspruch in Polen als durch die Beschäftigung ausgelöst anzusehen wäre. In diesem Fall wäre der Anspruch in Polen gegenüber dem nur durch den Wohnort ausgelösten Anspruch in Deutschland nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 883/2004 vorrangig und ein Differenzkindergeldanspruch in Deutschland ausgeschlossen (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004).

Wäre der Anspruch in Polen dagegen nur durch den Wohnort des Kindsvaters ausgelöst, wäre dieser gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Dreifachbuchst. iii VO Nr. 883/2004 für die Monate Dezember 2010 bis Februar 2011 nachrangig, da das Kind in diesem Zeitraum ihren Wohnsitz in Deutschland hatte. Für die Monate März bis August 2011 und September bis Oktober 2012 wäre hingegen der Anspruch in Polen vorrangig, da das Kind in diesen Zeiträumen in Polen wohnte. Ein Differenzkindergeldanspruch in Deutschland würde für die Monate März bis August 2011 und September bis Oktober 2012 gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 ausscheiden.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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